Hermann von Helmholtz-Zentrum für Kulturtechnik

Zentralinstitut der Humboldt-Universität zu Berlin

„Stoicheia“ Bild, Schrift und Zahl in der Tradition der „Elemente“ des Euklid

Jochen Brüning

Das Spannungsverhältnis von Bild, Schrift und Zahl ist offensichtlich von erheblicher Bedeutung für die Kulturgeschichte, auch wenn eine genaue Begriffsbestimmung ebenso schwierig erscheint wie die
Formulierung allgemeiner Gesetze des Zusammenwirkens. Ein aussichtsreiches Untersuchungsfeld muß daher hinreichend klar begrenzt sein und eine hinreichend lange und bedeutsame Entwicklung aufweisen, in der alle drei betrachteten Medien eine wichtige Rolle gespielt haben.

Diese Kriterien werden in besonderem Maße erfüllt von den »Elementen« des Euklid und ihrer Wirkungsgeschichte. Es ist klar, daß nach Alter und Verbreitung diesem Text nur wenige an die Seite gestellt werden können, seine technische Natur wiederum grenzt das Wirkungsfeld deutlich ab, mindestens auf den ersten Blick. Der Inhalt konstituiert sich zunächst aus Schrift und Zahl, die beide mit demselben Zeichensatz angeschrieben werden. Das Bild tritt hinzu als unabdingbare Stütze der abstrakten Überlegungen, wird aber von Anfang an und ganz programmatisch auch aus »Elementen« konstituiert, wie »Punkt«, »Gerade«, »Dreieck« usw. Bild, Schrift und Zahl sind also gleichermaßen wesentlich zur Konstitution und Vermittlung des Inhalts, ihre Rolle im Einzelnen unterliegt aber vielfältigen Veränderungen im Laufe der Zeit. Als besonderes Indiz dieser Wechselwirkung können die von den
jeweiligen Bearbeitern in großer Zahl eingeführten »Beweiszeichen« gedeutet werden, denen bisher kaum Aufmerksamkeit geschenkt wurde.

Zur Analyse dieses kulturgeschichtlichen Prozesses erweist es sich als sehr hilfreich, dass das Korpus der »Elemente« im Verlaufe seiner mehr als zweitausendjährigen Geschichte eine hohe Stabilität aufweist, so
dass Unterschiede in der Bewertung und Gestaltung recht leicht auszumachen sind. Das hier beantragte Projekt stellt sich die Aufgabe, den spezifischen Wechselwirkungen von Bild, Schrift und Zahl in
Präsentation, Rezeption und Wirkung der Euklidischen »Elemente« nachzugehen. Im Vordergrund des Interesses steht die Frage, inwieweit die nachweisbaren Phänomene charakteristisch sind für die Entwicklung der Mathematik im ganzen, da in diesem Feld naturgemäß die direktesten Wirkungen zu erwarten sind. Davon ausgehend wird sich der Blick öffnen können auf kulturgeschichtliche Entwicklungen von allgemeinerem Charakter.