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Objekt des Monats: Eine Privatbibliothek zieht um – die Arbeits- und Forschungsstelle Christa und Gerhard Wolf

Objekt des Monats 11/2023

Im Mai 2023 kamen 6000 Bücher aus der Wohnung Christa und Gerhard Wolfs an die Humboldt-Universität. Dank einer Schenkung 2015 ist damit eine einzigartige Autor:innenbibliothek öffentlich zugänglich. Zusammen mit den Teilbeständen, die seit 2016 von ehrenamtlichen Helfer:innen aus dem Souterrain der Pankower Wohnung und dem Woseriner Sommerhaus der Wolfs an die Arbeits- und Forschungsstelle Privatbibliothek Christa und Gerhard Wolf gebracht wurden, sind nun in drei Räumen des Instituts für deutsche Literatur die Bücherregale aus den Arbeitszimmern der Autorin und des Essayisten, der am 7. Februar starb, zu durchstöbern.

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Abb. 1 Verzeichnen, Detail. (Foto: Ralf Klingelhöfer)

Durch den „Gerhard Wolf-Raum“ zieht sein inspirierender Geist und seine ermutigende Großzügigkeit, nicht nur in Gestalt der Bücherregale voller Charme (an einem Schrank ist noch das Etikett „Volkseigentum“ lesbar), seines Schreibtischs und der Grafiken zu Christa Wolfs Medea. Stimmen. Auch der neue „Christa Wolf-Raum“ mit Schreibtisch, Büchern und Regalen ihres letzten Arbeitszimmers, ost- wie westdeutschen Ausgaben ihrer Werke, einer Sammlung an Vorleseexemplaren samt zeit- und literaturhistorisch aufschlussreichen Nutzungsspuren und dem Bestand an Lizenzausgaben in mehr als 50 Sprachen wurde schon unmittelbar nach dem Umzug zum vielgenutzten Seminar-, Forschungs- und Veranstaltungsort.

Eine konzeptionell wesentliche Idee war es, die letzte Aufstellungsordnung der Bücher so weit wie möglich zu erhalten. Immerhin verspricht schon der Standort einer Anna Seghers-Exil-Edition in unmittelbarer Nähe des Schreibtischs Christa Wolfs Einblicke in eine poetische Traditionsbeziehung. Warum die diversen Hölderlin-Ausgaben in Gerhard Wolfs Arbeitszimmer zu stehen kamen, lässt sich aus dessen literarischem Essay „Der arme Hölderlin“ im weithin beachteten Gemeinschaftsprojekt Christa und Gerhard Wolfs „Ins Ungebundene gehet eine Sehnsucht. Projektionsraum Romantik“ von 1985 erschließen. Eine über sechs Jahrzehnte gewachsene Paar-Bibliothek folgt eigenen Gesetzen.
Voraussetzung für die Sicherung der Aufstellungsordnung war einerseits die Fotodokumentation der Regale (zum Teil in 3D) und andererseits eine detaillierte Verzeichnung jedes Buchexemplars vor dem Umzug.

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Abb. 2 Verzeichnen am 20. März 2023 (Foto: Ralf Klingelhöfer)

Dank enthusiastischer Teamarbeit ist somit dokumentiert, wo ein Buch ursprünglich stand, selbst wenn die Differenz zwischen 3,50 Metern Raumhöhe am Pankower Amalienpark und 2,70 Metern in der Arbeitsstelle eine Eins-zu-Eins-Aufstellung unmöglich machte. Schon während der langen Verzeichnungstage in der Wohnung machten die beteiligten Studierenden und Wissenschaftler:innen jede Menge Entdeckungen: Das Sinn und Form-Heft 1/1949 enthält Notizen Gerhard Wolfs. Die junge Christa Ihlenfeld widmet 1950 Kurt Tucholskys Rheinsberg für Verliebte ihrem zukünftigen Ehemann! Liebesgedichte von Stepan Stschipatschow – wer ist das wohl? – tragen eine 1951er Widmung Gerhard Wolfs an sie. Welcher Lebensbogen scheint auf zwischen Christa Wolfs ausführlichem Widmungstext vom 28. Juli 1957 in Walt Whitmans Gedichtband Grashalme und der zum 80. Geburtstag ihres Mannes in einem Kochbuch von Wolfram Siebeck! Wie aufschlussreich, dass Gerhard Wolf seine frühesten Lyrikerwerbungen signiert und datiert hat. Welche Lust auf Recherche löst ein Rilke-Bändchen aus dem Insel-Verlag mit dem Eintrag „Gerhard Wolf, Bad Frankenhausen, 1947. Abitur“ aus.

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Abb. 3 Namenseintrag Gerhard Wolf 1947 in Rilke (Foto: Birgit Dahlke)
Widmungen Louis Fürnbergs (1954), Edgar Hilsenraths (1978 und 1990) oder Saids (2001) fielen einem während der Verzeichnungsarbeit im März 2023 wortwörtlich ‚in die Hände‘. Was steckt hinter der undatierten Doppelunterschrift von Heinrich Böll und Lew Kopelew? Wie geriet die Widmung Paul Eluards für Stephan Hermlin in die Bibliothek der Wolfs? Den literaturgeschichtlichen Kontext, der sich hinter einer Unikat-Ausgabe Hugo Hupperts von 1940 verbirgt, hatte Emma Ulrich schon 2018 in ihrer Bachelorarbeit rekonstruiert.
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Abb. 4 Unikat 1940 von Hugo Huppert (Foto: Birgit Dahlke)

Max Frischs Widmung von 1975 in seinem Tagebuch 1946-1949 legt eine Spur zur jahrzehntelangen Korrespondenz zwischen Wolf und Frisch.

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Abb. 5 Widmung Max Frisch 1975 (Foto: Birgit Dahlke)

Verweist es auf die Gründungsgeschichte des bibliophilen Kleinverlags Januspress, wenn Oskar Pastior 1990 das Wort „Janus“ in seiner an Gerhard Wolf gerichteten Widmung erwähnt, oder auf den Titel des gewidmeten Exemplars Kopfnuß Januskopf mit Palindromen? Die Widmungen in der Privatbibliothek werfen Fragen auf, die Recherchen in Literaturgeschichten und Archiven initiieren. Sie dokumentieren deutsch-deutsche und übernationale Beziehungsgeschichten, die erst noch zu erzählen sind.

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Abb. 6 Widmung Oskar Pastior 1990 (Foto: Birgit Dahlke)

PD Dr. Birgit Dahlke
Leiterin der Arbeits- und Forschungsstelle
Privatbibliothek Christa und Gerhard Wolf an der HU
Sprach- und Literaturwissenschaftliche Fakultät
Institut für deutsche Literatur
Dorotheenstr. 24/ Räume 3.509, 3.543 und 3.544
Website Arbeits- und Forschungsstelle Privatbibliothek Christa und Gerhard Wolf

Die Privatbibliothek ist öffentlich zugänglich dienstags von 12 bis 14 Uhr sowie nach Vereinbarung mit Alina Mohaupt (E-Mail: mohaupal@hu-berlin.de).