Archiv der Kategorie: Objekt des Monats

Objekt des Monats: Eine Marmorbüste wird Miniatur – Ein 3D-Projekt zum 200. Geburtstag des Physikers Robert Gustav Kirchhoff

Objekt des Monats 04/2024

Im Magazin der Kustodie lagert eine Büste des Physikers Robert Gustav Kirchhoff (1824-1887), 1888 geschaffen von dem Berliner Bildhauer Carl Begas. Sie stand bis 1929 im Reigen weiterer Marmorbüsten geehrter Professoren der Universität in der alten Aula. Aus Anlass des 200. Geburtstags von Kirchhoff wurde die Büste aus ihrem Dornröschenschlaf geweckt und einem 3D-Scan unterzogen. Dafür musste das Werk im Magazin neu aufgestellt werden und konnte mit dem richtigen Abstand, einer abgestimmten Beleuchtung und einem guten Auge kontaktfrei manuell gescannt werden. Diese diffizile Aufgabe übernahmen Prof. em. Dr. Manfred Paasch, ehemals Leiter des Gießereilabors der Berliner Hochschule für Technik, und sein ehemaliger Mitarbeiter Bernhard Bienia. Mit dem optischen 3D-Scanner EVA-Artec wurde durch langsame Schwenk- und rotierende Bewegungen die Oberfläche der Büste abgetastet. Um alle Flächen zu erreichen, kam zusätzlich ein Drehteller zum Einsatz.
Beim Scannen vor Ort war es wichtig, dass die Einzelscans überlappende Bereiche aufweisen, damit die einzelnen Patches durch viele Iterationsschritte zusammengefügt werden können. Für den 3D-Druck wurden die Daten im STL-Format bearbeitet, ein spezielles Format für Netzkoordinaten dreidimensionaler Datenmodelle, das die Oberfläche des Objektes durch eine Vielzahl kleiner Dreiecke abbildet.
Mit der Drucker-Software des 3D-Druckers mussten anschließend die Daten skaliert und technologische Angaben wie Schichtdicke, Extrudertemperatur, Hilfgeometrien (Support) u.a. festgelegt werden. Schicht für Schicht entstand nun aus dem plastifizierten Kunststoff das Modell mit einer Größe von 33% – in 27 Stunden Druckzeit. Zum Schluss mussten noch technologisch notwendige Stützen und Hilfsstrukturen entfernt werden.

Eine nette Spielerei oder wozu das Ganze?
Der 3D-Druck wurde zunächst im Rahmen der 200. Geburtstagsfeierlichkeiten von Robert Gustav Kirchhoff  angefertigt. Die Büste von Carl Begas könnte aber darüber hinaus noch weiter für das Andenken von Kirchhoff zum Einsatz kommen. Auf Anregung des ehemaligen Präsidenten der Berliner Hochschule für Technik, Prof. em. Gerhard Ackermann, könnte sie als Vorbild für eine heute nicht mehr existente Büste auf dem Grabdenkmal von Kirchhoff dienen.
Möglicherweise war sie nämlich das Vorbild für die 1889 von Bernhard Römer gegossene Bronzebüste, die nicht mehr in situ ist. Die über 130 Jahre alte Marmorbüste der HU könnte also womöglich noch ein wichtiges Ausgangsobjekt für eine Abformung und einen anschließenden Bronzeguss werden. Das Kirchhoff-Projekt vereint somit nicht nur alte Bildhauerkunst mit moderner Digitaldrucktechnik, sondern lässt womöglich noch ein neues Werk in traditionell handwerklicher Gusstechnik entstehen. The story goes on…

Text und Fotos: Christina Kuhli/ Manfred Paasch

Objekt des Monats: Von der Invalidenstraße 110 bis Adlershof. Eine Hausfassade und das morphologische Modell eines idealen Kristalls

Objekt des Monats 02/2024

Abb. 1 Kristall Gesamtansicht
Abb. 1 Kristall Gesamtansicht. Foto: Dr. Holm Kirmse

Das Modell (Abb. 1) zeigt die ideale Form eines Kristalls. Hier handelt es sich um die Kombination dreier Formen, die im kubischen Kristallsystem vorzufinden sind. Wegen der Größe der Flächen fällt zuerst der Würfel ins Auge. In der Kristallographie nennt man ihn Hexaeder, weil er von sechs gleichartigen Flächen begrenzt ist. Die zweite Form ist ein Tetraeder (von 4 Flächen begrenzt). Die dritte Form ist durch zwölf gleichartige Flächen begrenzt und wird Rhombendodekaeder genannt. Die einzelnen Flächen der drei Formen können mit Indices versehen werden. Millersche Indices entsprechen den reziproken Werten der Schnittpunkte einer Fläche mit den Achsen x, y und z: Diese drei Achsen stehen im kubischen Kristallsystem senkrecht aufeinander und sind gleich lang. Im Falle des Rhombendodekaeders schneidet eine Fläche immer zwei Achsen im gleichen Verhältnis, während die dritte Achse nicht geschnitten wird. Die Achsenabschnitte sind demnach 1 : 1 : ∞. Die dazu reziproken Werte sind 1 : 1 : 0. Bei entsprechender Wahl der Achsen erhält man für die zum Betrachter hinzeigende Fläche die Millerschen Indizes (110), gesprochen: „eins eins null“.

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Räumliche Lage von Flächen in einem Hexaeder und die jeweiligen Millerschen Indizes. Quelle: Wikipedia - Datei: Miller Indizes Ebenen.png - Erstellt: 27. März 2006 (Der ursprüngliche Uploader war Noamik bei der deutschsprachigen Wikipedia) CC BY-SA 3.0
Die mathematische Betrachtung der Symmetrieeigenschaften von Kristallen lässt sich nicht nur in Formeln fassen, so mancher sieht diese Formen auch in ganz anderen Zusammenhängen. Und damit zur Invalidenstraße 110: Bevor das Institut für Physik der Humboldt-Universität zu Berlin im Jahr 2003 zum jetzigen Standort auf dem Campus Adlershof umzog, befand es sich als Institut für Physik und Elektronik in dem Gebäude Invalidenstraße 110 an der Ecke zur Chausseestraße (siehe Foto unten rechts). Bestandteil des Instituts war auch das Institut für Kristallographie mit seinen Forschungsschwerpunkten Kristallwachstum und Kristallcharakterisierung. Der Studiengang Kristallographie wurde durch eine umfangreiche Lehrsammlung unterstützt. Heute ist die Kristallographie Teil der Spezialisierungsrichtung Festkörperphysik im Masterstudiengang Physik. Die Lehrsammlung Kristallographie existiert weiterhin.
Abb. 2 Kristall
Abb. 2 (links): Gleiches Polyedermodell gesehen aus einer anderen Perspektive. Für die hier vorliegende Betrachtung ist die (110)-Fläche optisch kenntlich gemacht. Das auch ins Auge fallende unregelmäßige Sechseck über der Fläche wird durch die Millerschen Indizes (111) identifiziert. (Siehe zur besseren räumlichen Veranschaulichung weiter oben die schematische Darstellung von Flächen mit den Indizes (100), (110) und (111)). Foto: Dr. Holm Kirmse
Abb. 3 Hausfassade Inv. 110
Abb. 3 (rechts): Fassade des Institutsgebäudes Invalidenstraße 110. Foto: Oliver Zauzig

Die Fassade des ehemaligen Institutsgebäudes mit ihren Flächen parallel zu Invaliden- und Chausseestraße ist zur Kreuzung hin abgeschrägt, so dass eine zusätzliche dritte Fläche entstanden ist, in der sich der Haupteingang befindet. Ob beabsichtigt oder nicht: legt man das Achsensystem entlang der Hauskanten, dann entsprechen die Millerschen Indizes dieser dritten Fläche exakt der Hausnummer des Gebäudes. Was sich jetzt liest wie eine der unzähligen Verschwörungserzählungen ist wohl reiner Zufall. Bekanntlich ist die Eins Eins Null auch die Rufnummer der Polizei, Physiker und Chemiker erkennen darin das Element Darmstadtium und als Binärsystem spielt es in der Informatik eine wichtige Rolle. Und sollten Sie doch einen Zusammenhang zwischen der Idealform eines Kristalls und der Hausfassade erkennen, so sei nicht nur darauf verwiesen, dass das Gebäude laut Informationen der Technischen Abteilung 1981 entstanden ist, sondern dass es vor 1920 an dieser Adresse das Gasthaus „Zum Kuhstall“ gab, so zumindest lässt es sich bei Foto Marburg recherchieren.

Die Technische Abteilung der HU hat im Dezember 2023 die Liegenschaft Invalidenstraße 110 an die Senatsverwaltung für Stadtentwicklung, Bauen und Wohnen für die anstehenden Umbau- und Sanierungsmaßnahme übergeben. Geplant ist diese in den kommenden fünf Jahren durchzuführen.

Autor: Dr. Holm Kirmse

Leiter der Kristallographischen Lehrsammlung
Newtonstraße 15
12489 Berlin

Links
Polyedermodell Kombination Würfel-Tetraeder-Rhombendodekaeder in „Sammlungen digital“: https://sammlungen-digital.hu-berlin.de/viewer/image/2949349a-7155-45e2-a88e-57126add8e1a/2/ 

Ecke Chausseestraße/Invalidenstraße in Technische Abteilung der HU: https://www.ta.hu-berlin.de/gebaeude/no:2215 und https://www.hu-berlin.de/de/pr/30-jahre-deutsche-einheit/bildergalerie-damals-und-heute/D2_hu20mh_30Jahre_DSF1544-1.jpg/view

Gasthaus „Zum Kuhstall“ in Bildarchiv Foto Marburg: https://www.bildindex.de/document/obj20555125

Objekt des Monats: „Souvenir aus Yokohama“ Ein Lackalbum in der wissenschaftlichen Sammlung „Bestände der Mori-Ōgai-Gedenkstätte“

Objekt des Monats 12/2023

Dank einer bedeutenden Schenkung historischer Fotografien aus dem Japan der Meiji-Zeit (1868 –1912) ging ein kostbares Lackalbum in den Besitz der Humboldt-Universität zu Berlin über.

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Dem Atelier Adolfo Farsari zugeschriebenes lackiertes Fotoalbum (40 x 31cm) aus den späten 1890er Jahren. Es enthält fünfzig handkolorierte Aufnahmen (ca. 20 x 27cm), die sich typischerweise in „views“ und „costumes“ einteilen lassen.

Es wird in der wissenschaftlichen Sammlung „Bestände der Mori-Ōgai-Gedenkstätte“ bewahrt und momentan in der Mediathek des Grimm-Zentrums digital erschlossen. Auf den großformatigen Seiten sind fünfzig kolorierte Albumin-Abzüge montiert, die von liebevoll in Aquarellfarben ausgeführten Illustrationen gerahmt sind.

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Eine der Landschaftsaufnahmen zeigt die einst kaiserlichen Boten vorbehaltene „Heilige Brücke“ (Shinkyō), welche zur Schreinanlage in Nikkō führt (Weltkulturerbe). Ein Symbol der Moderne, der Strommast am rechten Ufer des Daiya-Flusses, wurde durch die Kolorierung offenbar bewusst verborgen. Die Aufnahme wird oftmals Tamamura Kōzaburō zugeschrieben, der mit Adolfo Farsari zusammenarbeitete (späte 1890er Jahre).

Angaben zu den Urheber:innen der Fotografien, aber auch zu ihrem Alter fehlen. Wann und wie das Album nach Europa gelangte, ist nicht bekannt. Den einzigen Hinweis bildet eine zarte Eintragung mit Bleistift auf der ansonsten leeren dritten Seite. Sie lautet „Farsari“ und ordnet das Objekt somit der im ausgehenden 19. Jahrhundert weltweit nachgefragten „Yokohama-Fotografie“ zu.

In der Mitte des 19. Jahrhunderts hatte die Dynamik der globalen Geschichte auch Japan aus der „idyllischen Stille“ (Mori Ōgai) gerissen. Nach mehr als zweihundert Jahren der selbst gewählten Isolation öffnete sich das Inselreich der wissenschaftlich-technisch geprägten Zivilisation des „Westens“. Zwar gestaltete sich die touristische Entdeckung der fernen Destination zunächst mühsam, doch wurde das „Land der aufgehenden Sonne“ rasch zu einem neuen Sehnsuchtsort der reisenden Schichten Europas. Ästhetische Strömungen wie der aufblühende Japonismus und ein zunehmend zivilisationskritischer Zeitgeist wirkten zusammen, um das angesagte Reiseziel leidenschaftlich zu imaginieren.

Nach dem Frühstück steigen wir zu den Tempeln empor, über lange Stufenreihen in rauschenden Hainen, durch deren dunkles Laub das Meer hindurchleuchtet. Was Griechenland einmal war aber nicht mehr ist, was man [ … ] von seiner Schönheit träumt, das ist in dieser Landschaft zur Wahrheit geworden.
(Harry Graf Kessler, Tagebuch, 15. April 1892)

Bereits seit den 1860er Jahren unterhielten europäische und japanische Fotografen Ateliers in Yokohama – der Hafenstadt, die den meisten Reisenden zur An- und Abreise diente. Die Ateliers produzierten vorwiegend für Tourist:innen, die einzelne Abzüge oder kunstvoll gearbeitete Alben erwarben. Als Begründer der „Yokohama-Fotografie“ gilt Felice Beato (1832–1909). In den frühen Jahren seiner japanischen Schaffensperiode hielt der italienisch-britische Fotograf Eindrücke einer zauberhaft scheinenden Welt fest, die von der westlichen Zivilisation vermeintlich noch kaum berührt war. Sein Atelier popularisierte die Anfertigung von Abzügen auf Albuminpapier. Seine Schüler und Konkurrenten – unter ihnen Adolfo Farsari (1841–1898) und Tamamura Kōzaburō (1841–1932) – reagierten auf die rasch wachsende Nachfrage. Zunächst kamen Genrebilder, später auch Landschaftsansichten koloriert auf den Markt.

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Die Genrebilder im Album nehmen den traditionellen Alltag des Landes in den (europäischen) Blick. Hier eine Dame im Kimono, die einen reich verzierten Obi-Gürtel bindet. Die Aufmerksamkeit gilt ganz dem „in Seide gewobenen Gemälde“ (Curt Netto). Wahrscheinlich Tamamura Kōzaburō, späte 1890er Jahre.

Die Mitarbeiter:innen, welche diese Abzüge kunstvoll mit Farbe versahen, brachten Fertigkeiten aus der Herstellung von Holzschnitten mit. Dank des kostengünstigen Verfahrens, das detailreiche und ansprechende Ergebnisse lieferte, wurden bald jährlich zehntausende von Kopien produziert und nach Übersee verkauft.

Fotografie und Tourismus standen in einer fruchtbaren Wechselbeziehung. Den Reisenden im ausgehenden 19. Jahrhundert waren die Bilder wohlbekannt. Sie formten Sehnsüchte und Erwartungen; sie definierten Sehenswertes. Die Nachfrage aus Europa und Nordamerika, der eine lebhafte Rezeption japanischer Farbholzschnitte vorausgegangen war, übte ihrerseits großen Einfluss auf die Wahl von Motiven, Perspektiven und Farben aus. Indem Tourist:innen aus tausenden von Aufnahmen wählten, konnten sie ein Album ‚ihrer‘ Erfahrungen als Souvenir zusammenstellen.

Die eingangs erwähnte Schenkung ist einem privaten Sammler zu danken und erfolgte 2021 in Erinnerung an den Privatbankier Moritz Friedrich Bonte (11. Juli 1847 Magdeburg – 18. Juli 1938 Berlin). Die zwölf Alben und insgesamt mehr als 700 Fotografien bilden eine kostbare Quelle für die Arbeit der Mori-Ōgai-Gedenkstätte, die sich mit der Vielfalt der Begegnungen zwischen Japan und Europa während des Übergangs in die Moderne beschäftigt. Das „Souvenir aus Yokohama“ und eine Auswahl von Fotografien werden ab Anfang 2024 in einer Sonderausstellung in der Gedenkstätte zu sehen sein. Tokyo Views stimmt auf das Jubiläum der Städtepartnerschaft Tokyo-Berlin ein, das im kommenden Jahr ansteht und wendet sich der touristischen Wahrnehmung der japanischen Metropole an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert zu. Sie erläutert zeitgenössische Konzepte der Sehenswürdigkeit und stellt eine Reihe „namhafter Orte“ (meisho) vor.

Autor: Harald Salomon
Wissenschaftlicher Leiter der Mori-Ōgai-Gedenkstätte

Die Angaben zu den Fotografien wurden von Studierenden des Instituts für Asien- und Afrikawissenschaften erarbeitet.

Mori-Ōgai-Gedenkstätte der Humboldt-Universität zu Berlin
Luisenstr. 39, 10117 Berlin
Tel. 030-2093-66933
E-Mail: mori-ogai@hu-berlin.de
Website: https://www.iaaw.hu-berlin.de/de/region/ostasien/seminar/mori
Öffnungszeiten: dienstags bis freitags 12-16 Uhr; donnerstags 12-18 Uhr

Objekt des Monats: Eine Privatbibliothek zieht um – die Arbeits- und Forschungsstelle Christa und Gerhard Wolf

Objekt des Monats 11/2023

Im Mai 2023 kamen 6000 Bücher aus der Wohnung Christa und Gerhard Wolfs an die Humboldt-Universität. Dank einer Schenkung 2015 ist damit eine einzigartige Autor:innenbibliothek öffentlich zugänglich. Zusammen mit den Teilbeständen, die seit 2016 von ehrenamtlichen Helfer:innen aus dem Souterrain der Pankower Wohnung und dem Woseriner Sommerhaus der Wolfs an die Arbeits- und Forschungsstelle Privatbibliothek Christa und Gerhard Wolf gebracht wurden, sind nun in drei Räumen des Instituts für deutsche Literatur die Bücherregale aus den Arbeitszimmern der Autorin und des Essayisten, der am 7. Februar starb, zu durchstöbern.

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Abb. 1 Verzeichnen, Detail. (Foto: Ralf Klingelhöfer)

Durch den „Gerhard Wolf-Raum“ zieht sein inspirierender Geist und seine ermutigende Großzügigkeit, nicht nur in Gestalt der Bücherregale voller Charme (an einem Schrank ist noch das Etikett „Volkseigentum“ lesbar), seines Schreibtischs und der Grafiken zu Christa Wolfs Medea. Stimmen. Auch der neue „Christa Wolf-Raum“ mit Schreibtisch, Büchern und Regalen ihres letzten Arbeitszimmers, ost- wie westdeutschen Ausgaben ihrer Werke, einer Sammlung an Vorleseexemplaren samt zeit- und literaturhistorisch aufschlussreichen Nutzungsspuren und dem Bestand an Lizenzausgaben in mehr als 50 Sprachen wurde schon unmittelbar nach dem Umzug zum vielgenutzten Seminar-, Forschungs- und Veranstaltungsort.

Eine konzeptionell wesentliche Idee war es, die letzte Aufstellungsordnung der Bücher so weit wie möglich zu erhalten. Immerhin verspricht schon der Standort einer Anna Seghers-Exil-Edition in unmittelbarer Nähe des Schreibtischs Christa Wolfs Einblicke in eine poetische Traditionsbeziehung. Warum die diversen Hölderlin-Ausgaben in Gerhard Wolfs Arbeitszimmer zu stehen kamen, lässt sich aus dessen literarischem Essay „Der arme Hölderlin“ im weithin beachteten Gemeinschaftsprojekt Christa und Gerhard Wolfs „Ins Ungebundene gehet eine Sehnsucht. Projektionsraum Romantik“ von 1985 erschließen. Eine über sechs Jahrzehnte gewachsene Paar-Bibliothek folgt eigenen Gesetzen.
Voraussetzung für die Sicherung der Aufstellungsordnung war einerseits die Fotodokumentation der Regale (zum Teil in 3D) und andererseits eine detaillierte Verzeichnung jedes Buchexemplars vor dem Umzug.

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Abb. 2 Verzeichnen am 20. März 2023 (Foto: Ralf Klingelhöfer)

Dank enthusiastischer Teamarbeit ist somit dokumentiert, wo ein Buch ursprünglich stand, selbst wenn die Differenz zwischen 3,50 Metern Raumhöhe am Pankower Amalienpark und 2,70 Metern in der Arbeitsstelle eine Eins-zu-Eins-Aufstellung unmöglich machte. Schon während der langen Verzeichnungstage in der Wohnung machten die beteiligten Studierenden und Wissenschaftler:innen jede Menge Entdeckungen: Das Sinn und Form-Heft 1/1949 enthält Notizen Gerhard Wolfs. Die junge Christa Ihlenfeld widmet 1950 Kurt Tucholskys Rheinsberg für Verliebte ihrem zukünftigen Ehemann! Liebesgedichte von Stepan Stschipatschow – wer ist das wohl? – tragen eine 1951er Widmung Gerhard Wolfs an sie. Welcher Lebensbogen scheint auf zwischen Christa Wolfs ausführlichem Widmungstext vom 28. Juli 1957 in Walt Whitmans Gedichtband Grashalme und der zum 80. Geburtstag ihres Mannes in einem Kochbuch von Wolfram Siebeck! Wie aufschlussreich, dass Gerhard Wolf seine frühesten Lyrikerwerbungen signiert und datiert hat. Welche Lust auf Recherche löst ein Rilke-Bändchen aus dem Insel-Verlag mit dem Eintrag „Gerhard Wolf, Bad Frankenhausen, 1947. Abitur“ aus.

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Abb. 3 Namenseintrag Gerhard Wolf 1947 in Rilke (Foto: Birgit Dahlke)
Widmungen Louis Fürnbergs (1954), Edgar Hilsenraths (1978 und 1990) oder Saids (2001) fielen einem während der Verzeichnungsarbeit im März 2023 wortwörtlich ‚in die Hände‘. Was steckt hinter der undatierten Doppelunterschrift von Heinrich Böll und Lew Kopelew? Wie geriet die Widmung Paul Eluards für Stephan Hermlin in die Bibliothek der Wolfs? Den literaturgeschichtlichen Kontext, der sich hinter einer Unikat-Ausgabe Hugo Hupperts von 1940 verbirgt, hatte Emma Ulrich schon 2018 in ihrer Bachelorarbeit rekonstruiert.
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Abb. 4 Unikat 1940 von Hugo Huppert (Foto: Birgit Dahlke)

Max Frischs Widmung von 1975 in seinem Tagebuch 1946-1949 legt eine Spur zur jahrzehntelangen Korrespondenz zwischen Wolf und Frisch.

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Abb. 5 Widmung Max Frisch 1975 (Foto: Birgit Dahlke)

Verweist es auf die Gründungsgeschichte des bibliophilen Kleinverlags Januspress, wenn Oskar Pastior 1990 das Wort „Janus“ in seiner an Gerhard Wolf gerichteten Widmung erwähnt, oder auf den Titel des gewidmeten Exemplars Kopfnuß Januskopf mit Palindromen? Die Widmungen in der Privatbibliothek werfen Fragen auf, die Recherchen in Literaturgeschichten und Archiven initiieren. Sie dokumentieren deutsch-deutsche und übernationale Beziehungsgeschichten, die erst noch zu erzählen sind.

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Abb. 6 Widmung Oskar Pastior 1990 (Foto: Birgit Dahlke)

PD Dr. Birgit Dahlke
Leiterin der Arbeits- und Forschungsstelle
Privatbibliothek Christa und Gerhard Wolf an der HU
Sprach- und Literaturwissenschaftliche Fakultät
Institut für deutsche Literatur
Dorotheenstr. 24/ Räume 3.509, 3.543 und 3.544
Website Arbeits- und Forschungsstelle Privatbibliothek Christa und Gerhard Wolf

Die Privatbibliothek ist öffentlich zugänglich dienstags von 12 bis 14 Uhr sowie nach Vereinbarung mit Alina Mohaupt (E-Mail: mohaupal@hu-berlin.de).

Objekt des Monats: Zweischaliges Hyperboloid der Firma Stoll (Nr. 224)

Objekt des Monats 10/2023

Nur wenigen Insidern würde sich das Objekt des Monats Oktober sofort erschließen. Das Modell eines zweischaligen Hyperboloids befindet sich in Adlershof, genauer gesagt im Institut für Mathematik und gehört zur dortigen Mathematischen Modellsammlung. Die Verbindung zur Universität reicht allerdings viel tiefer. Die Vorlage für das Modell entstand aus der Lehr- und Forschungstätigkeit des Instituts. Auch wenn das Modell nicht vollständig ist, so demonstriert es genau deshalb sehr schön den Grundgedanken einer Lehrsammlung, der in der Nutzung in der akademischen wie auch schulischen Lehre zu sehen ist. Deshalb bekommen die Objekte im Laufe ihrer Zeit Gebrauchsspuren oder gehen manchmal eben auch kaputt, auch wenn sie meist sehr robust für das Anfassen konstruiert sind. Aber der Reihe nach.
Hyperboloid - Abb.01
Exemplar des zweischaligen Hyperboloids der Firma Stoll (Nr. 224) in der mathematischen Modellsammlung in Adlershof. Die obere Schale fehlt, was auf die häufige Nutzung des Objektes hinweist (Foto: Robert Pässler, TU Dresden).

Das zweischalige Hyperboloid, eine geometrische Form in der Mathematik, ist eine Fläche zweiter Ordnung. Um sich daraus einen Körper zu denken, rotiert man eine Hyperbel um ihre Hauptachse. Dabei entstehen zwei getrennte Flächenstücke (im Modell als Körper), wobei im Falle des Berliner Modells das obere Flächenstück (der obere Körper) fehlt. Die Skizze in Abbildung 2 aus Meyers Großes Konversations-Lexikon von 1905 zeigt ein zweischaliges Hyperboloid mit den Achsen, wobei die im Bild dargestellte senkrechte Achse die Hauptachse ist.

Hyperboloid - Abb.02
Meyers Großes Konversations-Lexikon von 1905 zeigt ein zweischaliges Hyperboloid mit gedachten Achsen.

Interessant ist der Ursprung dieses Modells. Hergestellt wurde es von der Firma Rudolf Stoll K.G. Berlin. Sie befand sich in der Oderbruchstraße 8-14, also im Berliner Stadtteil Friedrichshain. Die Firma übernahm nicht nur die Herstellung, sondern auch den Vertrieb der Lehrmodelle.

Entwickelt wurden die Lehrmittel am II. Mathematischen Institut der Humboldt-Universität zu Berlin unter Leitung von Professor Dr. Kurt Schröder (1909–1978). Er hatte den Lehrstuhl für Angewandte Mathematik inne und war auch Direktor des Instituts. In der ersten Hälfte der 1960er Jahre war er zudem Rektor der Humboldt-Universität.

Die Modelle der Firma Stoll lassen sich in einer Entwicklungslinie mit den seit den 1880er Jahren hergestellten mathematischen Modellen von Brill, Schilling und Wiener betrachten. Sie erschienen in einer Zeit, als ihr Einsatz in der mathematischen Lehre bereits durch andere Medien erfolgte. Trotzdem wurden sie hergestellt und vertrieben, und darüber hinaus auch regelmäßig eingesetzt.

Hyperboloid - Abb.03
Das beschrieben Modell im Katalog "Lehrmodelle für Mathematik" der Rudolf Stoll K.G. Berlin No. 18 (Quelle: SLUB Dresden).

Spuren der Firma Stoll finden sich heute nur wenige. Bis auf die in einigen mathematischen Sammlungen anderer Universitäten (z.B. TU Dresden oder Universität Marburg) nachweisbaren Modelle, existiert noch der Katalog „Lehrmodelle für Mathematik“ der Rudolf Stoll K.G. Berlin No. 18, der dreisprachig in Deutsch, Englisch und Französisch erschien. Gegliedert sind die dort gezeigten Modelle in Lehrmittel für Elementarmathematik, für Geometrie und für Analysis. Unser Modell findet sich unter der Nummer „Modell 224/114“ mit dem Hinweis, dass „ein zweischaliges Hyperboloid“ gezeigt wird. Das Gewicht beträgt 2 Kilogramm. Die Maße sind 20 x 16 x 30 cm.

In diesem Zusammenhang ist noch erwähnenswert, dass solche Verkaufskataloge keine klassischen Sammelobjekte von Bibliotheken sind. Sie sind deshalb sehr rar und oft nur durch Zufall erhalten. Die Preisliste zum Katalog der Firma Stoll ist nicht digital zu finden. Ob sich irgendwo ein Exemplar erhalten hat, wissen wir nicht.

Dr. Oliver Zauzig

Links:

Mathematische Modelle am Institut für Mathematik: https://www.mathematik.hu-berlin.de/de/sammlung-mathematik und https://www.sammlungen.hu-berlin.de/sammlungen/mathematische-modelle/

Mathematik und ihre Didaktik (abgeschlossenes Projekt zur Sammlung): https://didaktik.mathematik.hu-berlin.de/de/projekte/abgeschlossen/mathematische-modelle/modellhersteller-fa-rudolf-stoll

Zweischaliges Hyperboloid (Stoll) der Mathematische Modellsammlung der HU im Digitalen Archiv mathematischer Modelle: https://mathematical-models.org/de/models/1064

Mathematische Modelle auf der Projektseite Materielle Modelle: http://www.universitaetssammlungen.de/modelle/suche/art/Mathematische+Modelle

Digitalisierter Katalog „Lehrmodelle für Mathematik“ in den Digitalen Sammlungen der SLUB Dresden: https://digital.slub-dresden.de/werkansicht/dlf/90059/1

Hyperboloīd in Meyers Großes Konversations-Lexikon: http://www.zeno.org/Meyers-1905/A/Hyperboloīd

Objekt des Monats: Ein starkes Stück: Annemirl Bauer, Männliche Herrlichkeit Gottes, 1988

Objekt des Monats 09/2023

Anklagend, schockierend, melancholisch – das großformatige Bild von Annemirl Bauer ist ausdrucksstark. Von den Augen einer mittig platzierten Frauenfigur, in Häftlingskleidung auf einer Kiste kauernd, gehen Strahlen zu beiden Seiten des Bildes aus. Links steht eine Reihe nackter Frauen mit hochhackigen Schuhen in Reih und Glied, die Vorderste streckt die bewaffnete Hand aus. Hinter ihr sind weitere Figuren, z. T. mit übergroßem Phallus. Die Pistole weist auf die rechte Bildseite mit einer aus Krücken gekreuzigten Frauenfigur, aus deren Schoß Blut strömt. Eine männliche Armee, in Köpfen angedeutet am unteren rechten Bildrand ist mit der Anrufung der Dreifaltigkeit beschrieben. Die düsteren, gewaltsamen und sexualisierten Bildszenen werden nur ganz am rechten Bildrand konterkariert durch eine im goldenen Lichtschein stehenden Mutter mit Kind, allen Anfeindungen zum Trotz aufrecht und ruhig dastehend.

Der Titel „Männliche Herrlichkeit Gottes“, im Bild präsent durch Schriftzeichen am Himmel bzw. auf einer Rakete, verweist ebenso auf die (von Männern verübten) Schrecken des Krieges und der Gewalt wie auf die Rollen der Frau – als Opfer, als Täterin, als Mutter

A.Bauer Männliche Herrlichkeit Gottes
Annemirl Bauer, Männliche Herrlichkeit Gottes, Öl/ Teppich, 208 x 246 cm, 1988

Seit 2018 hängt das Bild als eines der wenigen in der Öffentlichkeit noch präsenten Werke von Annemirl Bauer in der Humboldt-Universität. Die streitbare Malerin, selbst von der Stasi überwacht, aus dem Künstlerverband der DDR ausgeschlossen und mit nachfolgendem Arbeitsverbot belegt, setzte sich immer wieder mit feministischen Themen auseinander. Die „Männliche Herrlichkeit Gottes“ lässt sich darüber hinaus ganz konkret mit dem Wehrpflichtgesetz für Frauen in der DDR, den „Frauen für den Frieden“, aber auch mit der in der Bundesrepublik inhaftierten Feministin Ingrid Strobl in Verbindung bringen.

1982 wurde ein neues Wehrdienstgesetz erlassen, das auch Frauen im Mobilmachungsfall zur Landesverteidigung herangezogen hätte. Dagegen haben 150 Frauen in einem gemeinsamen Plädoyer an Erich Honecker protestiert: „Wir Frauen wollen den Kreis der Gewalt durchbrechen und allen Formen der Gewalt als Mittel zur Konfliktlösung unsere Teilnahme entziehen. […] Wir Frauen verstehen die Bereitschaft zum Wehrdienst als eine Drohgebärde, die dem Streben nach moralischer und militärischer Abrüstung entgegensteht und die Stimme der menschlichen Vernunft im militärischen Gehorsam untergehen läßt.“ (Eingabe zum Wehrdienstgesetz an den Staatsratsvorsitzenden Erich Honecker, 12. Oktober 1982)
Dieser pazifistischen Kritik folgte eine Welle von Vernehmungen durch die Staatssicherheit, Einschüchterungen und Verhaftungen – bspw. auch der politisch aktiven Malerin und Hauptunterzeichnerin Bärbel Bohley, die ebenso wie Annemirl Bauer im Verband Bildender Künstler der DDR organisiert war, aus dessen Bezirksvorstand sie 1983 ausgeschlossen wurde.

Ingrid Strobl wiederum, eine österreichische Journalistin, die von 1979 bis 1986 Redakteurin der Zeitschrift Emma in Köln war, wurde 1987 als Terrorismusverdächtige in Untersuchungs- bzw. Isolationshaft genommen. Sie war dabei gefilmt worden, wie sie einen Wecker kaufte, der vom BKA präpariert worden war und 1986 beim Anschlag auf das Verwaltungsgebäude der Lufthansa in den Überresten einer Bombe identifiziert werden konnte. Der Anschlag gegen die Lufthansa, verübt von der Organisation „Revolutionäre Zellen“, hatte ebenfalls einen feministischen Hintergrund und zielte auf den Sextourismus („staatlichen Rassismus, Sexismus und das Patriachat“, wie die Revolutionären Zellen selbst angaben, vgl. Ingrid Strobl: Vermessene Zeit. Der Wecker, der Knast und ich, Hamburg 2020). Strobl erhielt nach ihrer Verhaftung öffentliche Solidarität.

Auch ohne die Kenntnis dieser historischen Hintergründe wirkt das Werk von Annemirl Bauer durch seine offensive Bildsprache, die auch mit religiösen Motivzitaten spielt.
Trotz aller Kritik – insbesondere auch gegen die Ablehnung von Annemirl Bauer immer wieder geforderten Reisemöglichkeiten „mit Wiederkehr“ – war die Künstlerin keine Dissidentin und wollte die DDR nicht verlassen. Die gesellschaftlichen und politischen Strukturen verändern, das war zeitlebens ihr Kampf, den sie kurz vor dem Mauerfall im Sommer 1989 durch ihren frühen Tod verlor.
Seit 2010 erinnert ein nach ihr benannter Platz in Friedrichshain am Bahnhof Ostkreuz an die streitbare Künstlerin.

Autorin: Dr. Christina Kuhli

Objekt des Monats: Diagramm des Niederschlagsverlaufs in Berlin-Dahlem im Jahr 2022

Objekt des Monats 08/2023

Für das Objekt des Monats August haben wir uns für das Diagramm des Niederschlagsverlaufs in Berlin-Dahlem für das Jahr 2022 (Abb. 4) entschieden, was stellvertretend für die tägliche Wetterbeobachtung steht und darüber hinaus die Vielfalt der Forschung an der HU widerspiegelt sowie den Anschluss an aktuelle gesellschaftliche Debatten wie dem Klimawandel und Fragen der zukünftigen Ernährungssicherheit erlaubt. Es geht also um das einzige Thema, wo sich sicher jede und jeder stets eine Meinung bilden möchte: das Wetter.

Die Begriffe Wetter und Klima sollten auseinandergehalten werden. Wetter beschreibt den messbaren augenblicklichen Zustand der Atmosphäre, wogegen sich Klima eher als typischen wiederkehrenden jährlichen Ablauf des Wetters definiert, meist basierend auf 30jährigen Mittelwerten.

Mit Wetter wird meist Sonnenschein, Wind, Regen oder Temperatur in Verbindung gebracht. Das sind Größen, die messbar bzw. zählbar sind und insbesondere für die Landwirtschaft und damit für die Ernährung eine zentrale Rolle spielen. Und um das Messen bzw. Zählen auch professionell zu betreiben, gibt es feste Wetterstationen, die sich auch an der Humboldt-Universität befinden.

Die agrarklimatologische Wetterstation am landwirtschaftlichen Versuchsstandort in Berlin-Dahlem wurde 1931 eingerichtet. Die seitdem gemessenen Wetterdaten dienen zum einen für die Auswertung der landwirtschaftlichen Dauerversuche am Standort (Untersuchung von Zusammenhängen zwischen Witterungsverlauf und Wachstum, Entwicklung sowie Ertragsbildung landwirtschaftlicher Nutzpflanzen) und zum anderen für die Auswertung der unterschiedlichsten Feldversuche, die kurzfristiger angelegt sind. Die Daten stehen allen Studierenden sowie Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern für die Auswertung ihrer Freilandversuche zur Verfügung.

Darüber hinaus geben die langjährigen Wetteraufzeichnungen einen Einblick in die klimatischen Veränderungen Berlins.

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Abbildung 1: Wetterstation auf dem Gelände der Dauerfeldversuche des Departments für Nutzpflanzen- und Tierwissenschaften des Thaer-Instituts für Agrar- und Gartenbauwissenschaften in Dahlem. (Foto: O. Zauzig 2023)
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Abbildung 2: Verlauf des Jahresmittels der Lufttemperatur (Ta) seit Beginn der Wetteraufzeichnung in Dahlem.
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Abbildung 3: Jahresniederschlagshöhe (Pa) im gleichen Zeitraum.
Die zwei Grafiken zeigen den Verlauf des Jahresmittels der Lufttemperatur (Ta) und der Jahresniederschlagshöhe (Pa) von 1931 bis 2022. Die Lufttemperatur hat in Berlin-Dahlem zwischen 1931 und 2022 signifikant um 1.8 °C zugenommen (1.78 K in 92 Jahren). Die Jahresniederschlagshöhe zeigt keinen signifikanten Trend, wobei im Jahr 2022 die bisher geringste jährliche Niederschlagshöhe von nur 338 mm (entspricht 338 Liter pro Quadratmeter) über das ganze Jahr verteilt gemessen wurde.
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Abbildung 4: Verlauf der Niederschlagshöhe 2022, gemessen am Standort Dahlem.

Die Abbildung 4 zeigt, dass lediglich in 3 Monaten des Jahres (Februar, April, Dezember) die Niederschlagshöhe über dem langjährigen Mittel lag. Dies führte zu einem Jahresniederschlagsdefizit von 40 Prozent und somit zur geringsten Jahressumme von 337,8 Liter pro Quadratmeter seit Beobachtungsbeginn, im Jahr 1931. Mit nur 0,6 l/m² Niederschlag stellte der März 2022 ebenfalls einen Rekord auf, der durch die höchste bisher gemessene Sonnenscheindauer von 245,3 Stunden bedingt war.

Damit wurden im Jahr 2022 gleich vier Rekorde aufgestellt: höchste Sonnenscheindauer und geringste Niederschlagshöhe im März, geringste Jahresniederschlagshöhe seit 1931, höchste Zahl an „Wüstentagen“.

Das Wetter zu beobachten, bleibt weiterhin unsere Aufgabe.

Autoren: Prof. Dr. Frank-M. Chmielewski und Dr. Oliver Zauzig

Objekt des Monats: Der Dichter und der Delphinschädel

Objekt des Monats 07/2023

Der Dichter Adelbert von Chamisso (1781–1838) dürfte den meisten Menschen als Autor der 1814 erschienenen fantastischen Erzählung „Peter Schlemihls wundersame Geschichte“ geläufig sein. Darin verkauft der Protagonist seinen Schatten an den Teufel und verfällt damit der gesellschaftlichen Ächtung. Weit weniger bekannt ist Chamissos Bedeutung als Naturforscher. Er war auf den Gebieten der Ethnologie, der Zoologie und vor allem der Botanik tätig. Von 1815 bis 1818 nahm er an der Weltumsegelung des russischen Forschungsschiffes Rurik teil (Chamisso 2012). Eines der wesentlichen Ergebnisse dieser Fahrt war die Aufdeckung des Generationswechsels der Salpen durch Chamisso. Er konnte nicht nur die abwechselnde Bildung geschlechtlicher und ungeschlechtlicher Generationen dieser planktischen Organismen entschlüsseln, sondern war einer der ersten Forscher überhaupt, die den Zusammenhang von Larven und Generationsfolgen mariner Tiere erkannt haben (Glaubrecht & Dohle 2012).

Bild 1 - Delphinschädel
Der hier von zwei Seiten abgebildete, zersägte Delphinschädel stammt von Chamissos Weltumsegelung an Bord des russischen Forschungsschiffes ‚Rurik‘. (Foto: G. Scholtz)
Der hier von zwei Seiten abgebildete, zersägte Delphinschädel stammt ebenfalls von dieser Fahrt. In seinem Buch „Reise um die Welt“ erwähnt Chamisso Delphine u.a. in den Notizen vom 12. Mai und 4. Juni 1816: „Ein Delphin wurde harpuniert, der erste dessen wir habhaft wurden – er diente uns zu einer willkommenen Speise.“ „…Am 4. ward ein zweiter Delphin von einer anderen Art harpuniert.“ Insgesamt berichtet Chamisso über den Fang von sechs Delphinen, deren Schädel er sämtlich dem „Zootomischen Museum zu Berlin“ überlassen hat. Diese Aussage wird durch das Inventarverzeichnis der zootomischen Sammlung bestätigt, da dort sechs von Chamisso gesammelte Delphinschädel aufgeführt werden. Der Eintrag im Inventarbuch unter der Nummer 3956 für den hier gezeigten Schädel besagt: „Crania Delphini n. sp. … cl. a Chamisso ex itinere trans orbem attulit.“
Bild 2 - Crania Delphini
Crania Delphini n. sp. a 3955 diversa. illi Delphini dubii Cuv. oss. foss. affinea aut vero sumuliter (simuliter?) eodem (Übersetzung: Delphinschädel n. sp. (neue Art) von 3955 verschieden. Die ausgegrabenen Knochen ähneln denen von Delphinus dubius (Cuvier) oder sind sogar völlig gleich.) cl. a Chamisso ex itinere trans orbem mundum attulit. (Übersetzung: Von Chamisso gesammelt, brachte er sie von seiner Reise um die Welt mit.)
Im Jahre 1999 wurden der Schädel und ein Unterkiefer aus der anatomischen Sammlung der Charité der Zoologischen Lehrsammlung der Humboldt Universität (s. Scholtz 2018) überlassen. Die historische Bedeutung dieser Gegenstände blieb über 10 Jahre unbemerkt. Erst als es im Rahmen des DFG-Projektes „Die Aneignung des Weltwissens – Adelbert von Chamissos Weltreise“ eine Anfrage aus Hamburg über den Verbleib eines von Chamisso gesammelten Delphinschädels gab, führten eigene Provenienz-Recherchen zur Identifikation des Objektes. Weitere von Chamisso gesammelte Delphinschädel wurden im Bestand des Museums für Naturkunde identifiziert. Ein Abgleich mit den Notizen in Chamissos Reisetagebüchern (Sproll et al. 2023) bietet nun die Möglichkeit, herauszufinden, um welche der sechs in den Tagebüchern erwähnten Schädel und um welche Delphinarten es sich handelt.
Bild 3 - Adelbert von Chamisso in der Südsee
Aquarelliertes Porträt Chamissos unter Palmen im Pazifik von Ludwig Choris von 1817 (Sammlung Stiftung Stadtmuseum Berlin, Reproduktion: Oliver Ziebe, Berlin, Papier, Blatt: H: 22,80 cm, B: 18,40 cm, Inv.Nr.: TA 00/2026 HZ)

Chamisso war wie zahlreiche seiner wissenschaftlich tätigen Zeitgenossen Mitglied der „Gesellschaft Naturforschender Freunde zu Berlin“. Als ein typisches Kind der Aufklärung wurde diese private Vereinigung am 9. Juli 1773 in der Wohnung des Berliner Arztes Dr. Friedrich Heinrich Wilhelm Martini aus der Taufe gehoben (Böhme-Kassler 2005). Die sieben Gründungsmitglieder zeigten über ihre Professionen als Ärzte, Apotheker, Astronom, königlicher Kriegsrat und königliche Verwalter hinaus großes Interesse an naturwissenschaftlichen Fragen und waren stolze Besitzer von Naturaliensammlungen. Martini, der die Gründung initiierte, war beispielsweise ein engagierter Weichtierkundler und der Apotheker Marcus Élieser Bloch interessierte sich für Fische. Die schließlich zwölf ordentlichen Mitglieder trafen sich regelmäßig in ihren Privatwohnungen, diskutierten über naturkundliche Fragen und stellten ihre neuerworbenen Sammlungsgegenstände vor. Assoziierte und Ehrenmitglieder wurden zusätzlich bestimmt. Nicht zuletzt die Gründung der Berliner Universität im Jahre 1810 ließ die Mitgliederzahlen stark ansteigen. Als Chamisso im Jahre 1819 in die GNF gewählt wurde, gehörte es bereits zum guten Ton, die Mitgliedschaft neben der in anderen nationalen und internationalen Vereinigungen und Akademien aufzuführen. Die explosive Entwicklung naturwissenschaftlicher Forschung im 19. Jahrhundert fand auch ihren Niederschlag in der GNF. Sie wuchs beständig, und vor allem die große Zahl herausragender Forschungspersönlichkeiten, die ihr angehörten, zeigt ihre historische Bedeutung. Dabei wechselte der Schwerpunkt der Interessen immer mehr in Richtung biologischer Fragestellungen. Dementsprechend war die Gesellschaft eng mit dem Museum für Naturkunde verbunden, und mit Beginn des 20. Jahrhunderts fanden dort die Sitzungen statt. Der 2. Weltkrieg führte zu einer Zäsur der Aktivitäten der GNF. Im Jahre 1955 erfolgte die Wiederbelebung an der neugegründeten Freien Universität im Westteil Berlins, wo die Gesellschaft auch heute noch ihren Sitz hat. Die GNF hat sich von Beginn an der Förderung und Verbreitung naturwissenschaftlicher Erkenntnisse verschrieben. Diesem Ideal folgt sie auch heute noch. Sie ist eng mit den großen Berliner Universitäten und dem Museum für Naturkunde verbunden. Sie verleiht jährlich einen Preis für herausragende biologische Bachelor- und Masterarbeiten. Es finden nach wie vor regelgemäße Treffen mit wissenschaftlichen Vorträgen sowie Exkursionen statt. Sie ist die älteste noch existierende, private naturforschende Gesellschaft in Deutschland. Die GNF begeht am 9. Juli 2023 ihr 250-jähriges Bestehen im Hörsaal der Zoologie an der Freien Universität Berlin mit einem Kolloquium. Außerdem beleuchtet eine im Namen des Vorstands herausgegebene Festschrift Aspekte ihrer langen Geschichte (Scholtz et al. 2023).

Von Prof. Dr. Gerhard Scholtz

Links
Zoologische Lehrsammlung der Humboldt-Universität zu Berlin
Salpen (Feuerwalzen), Feuchtpräparat

Literatur
Böhme-Kassler, K. 2005 Gemeinschaftsunternehmen Naturforschung. Modifikation und Tradition in der Gesellschaft Naturforschender Freunde zu Berlin 1773 – 1906. Franz Steiner, Stuttgart.

Chamisso, A. von 2012 Reise um die Welt (Nachdruck). Die Andere Bibliothek, Berlin

Glaubrecht, M. & Dohle, W. 2012 Discovering the alternation generations in salps (Tunicata, Thaliacea): Adelbert von Chamisso’s dissertation “De Salpa” 1819 its material, origin and reception in the early nineteenth century. Zoosystenatics and Evolution 88: 317-363.

Scholtz, G. 2018 Zoologische Lehrsammlung (Zoological Teaching Collection). In: Beck, L.A. (Hrsg.). Zoological Collections of Germany – The animal kingdom in its amazing plenty at museums and universities. Springer, Berlin, pp. 123-134.

Scholtz, G., Sudhaus, W. & Wessel, A. (Hrsg.) 2023 Festschrift zum 250-jährigen Bestehen der Gesellschaft. Sitzungsberichte der Gesellschaft Naturforschender Freunde zu Berlin 57 (NF): 5-320.

Sproll, M., Erhart, W. & Glaubrecht, M. (Hrsg.) 2023 Adelbert von Chamisso: Die Tagebücher der Weltreise 1815-1818, Edition der handschriftlichen Bücher aus dem Nachlass. Brill/V&R Unipress, Göttingen.

Objekt des Monats: Fotografische Reproduktion des Röntgenbildes eines gebundenen Fußes

Objekt des Monats 06/2023

Über einen Zeitraum von tausend Jahren wurden chinesischen Mädchen die Füße gebunden, um sie zu verkürzen. Europäer:innen blickten mit einer Mischung aus Faszination und Befremden auf diese Schönheitspraxis. Im 19. Jahrhundert interessierten sich auch Mediziner für die gebundenen Füße, einer von ihnen war der Berliner Anatom Hans Virchow, dessen podologische Sammlung sich heute im Centrum für Anatomie der HU befindet.

Zu dieser Sammlung gehört auch das hier präsentierte Objekt, ein auf Karton geklebter Abzug eines Röntgenbildes (vgl. zu diesem https://www.sammlungen.hu-berlin.de/objekte/sammlung-am-centrum-fuer-anatomie/8468/), der handschriftlich mit „Fuß einer 32 jähr. chin. Frau“ bezeichnet ist.

Fuß einer 32 jähr. chin. Frau
Fotografische Reproduktion des Röntgenbildes eines gebundenen Fußes, Foto: Felix Sattler

Das Skelett zeigt die charakteristischen Merkmale gebundener Füße: Die kleinen Zehen sind unter die Sohle gekrümmt, der Spann ist nach oben gewölbt. Außer der extremen Verkürzung springt vor allem die genagelte Sohle ins Auge – offensichtlich wurde das Röntgenbild durch den Schuh aufgenommen.

Wie es dazu kam, lässt sich der „Zeitschrift für Ethnologie“ entnehmen: Im März 1905 lud Hans Virchow die Mitglieder der Anthropologischen Gesellschaft ins Foyer des Berliner Zirkus Schumann „zur Besichtigung der gegenwärtig hier weilenden Chinesentruppe“, um sich „von der Kleinheit und Umformung der Chinesinnenfüsse“ zu überzeugen. Über die Identität der „Truppe“ geben Anzeigen und zeitgenössische Quellen Aufschluss. Es handelte sich um den Zauberer Ching Ling Foo und die „berühmten kleinfüssigen Frauen“: seine Ehefrau (die „32 jähr. chin. Frau“), ihre Tochter Chee Toy und Chee Roan, deren Name auf einer Fotografie im Náprstek-Museum Prag, einer anderen Etappe ihrer Europatournee, vermerkt ist (vgl. Heroldová 2008). 

Fotografie im Náprstek-Museum Prag
Ching Ling Foo, seine Frau, Chee Roan und Chee Toy im Náprstek-Museum, 1905, Schwarzweißfotografie auf Karton, © Náprstek-Museum Prag

Schon in der Einladung hatte Virchow Hoffnungen auf eine Inspektion unverhüllter Füße gedämpft, „denn bekanntlich [seien] die chinesischen Frauen in bezug auf ihre Füsse besonders diffizil“. Tatsächlich wurden gebundene Füße in China nie öffentlich nackt gezeigt. Ausländische Fotografen und Ärzte brachen im 19. Jahrhundert vielfach das Blicktabu, indem sie Frauen mit Geld und Geschenken bedrängten. Auch die Artistinnen verweigerten sich dem zudringlichen Blick, ließen sich aber zu Röntgenaufnahmen bewegen – durch den Schuh. Ob dies, wie James Fränkel in der „Zeitschrift für orthopädische Chirurgie“ behauptet, nur gelang, weil die Frauen das 1895 entdeckte Verfahren nicht kannten oder ob er hier den Topos des heimlichen „Röntgenblicks“ bemühte, lässt sich nicht entscheiden. Die Aufnahme jedenfalls zeugt nicht nur von dem übergriffigen medizinischen Blick, sondern auch von dem Widerstand der Frauen.

Für die Anatomen war die Kampagne ein Erfolg, denn sie erlaubte nicht nur die Füße in drei Stadien der Verformung zu sehen, sondern – wider das populäre Vorurteil von der Gehunfähigkeit – auch in Bewegung. Für die Publikation der Untersuchungsergebnisse nahm Virchow mehrfache Überarbeitungen an den Röntgenbildern vor: Er drehte und retuschierte die Aufnahmen, um sie besser lesbar zu machen (vgl. Dünkel 2021). Für ihn war der Ortstermin weder die erste noch die letzte Begegnung mit gebundenen Füßen. Schon 1903 hatte er ein nach dem Ersten Opiumkrieg in die Berliner Sammlung gelangtes Feuchtpräparat untersucht, 1912 mazerierte er die Füße einer an Typhus verstorbenen Frau, die er im Zuge des „Boxerkriegs“, der Niederschlagung der Yihetuan-Bewegung, erhalten hatte. Hatten Mediziner im 19. Jahrhundert neben dem Blicktabu immer wieder auch den mangelnden Zugang zu chinesischen Leichen beklagt, änderte sich die Situation durch die Einrichtung von Missionskrankenhäusern und die Kolonialkriege. Bald besaß fast jede anatomische Sammlung der Imperialmächte Präparate gebundener Füße – einige davon aus geplünderten Gräbern. Auch Virchows Sammlung von Abgüssen, Modellen und Knochen gebundener Füße verdankt sich den kolonialen Bedingungen. Die Ausstellung „unBinding Bodies“ im gegenüberliegenden Tieranatomischen Theater hat es sich zur Aufgabe gemacht, die sensiblen Objekte neu zu kontextualisieren. Im Fokus stehen nicht die Füße, sondern die chinesischen Frauen und ihre Lebenswelten. Die Ausstellung läuft bis zum 31. August.

Jasmin Mersmann und Evke Rulffes

Ausstellung
unBinding Bodies. Lotosschuhe und Korsett im TA T

Katalog
unBinding Bodies – Zur Geschichte des Füßebindens in China
Jasmin Mersmann / Evke Rulffes (Hg.)
transcript Verlag, 2023. Open Access.

Literatur
Vera Dünkel (2021): Beyond Retouching. Hans Virchow‘s Mixed Media and his X-ray Drawings of the Lotus Foot, in: Hybrid Photography, hrsg. von Sara Hillnhuetter, Stefanie Klamm, Friedrich Tietjen, London/New York, S. 79–88.

James Fränkel (1905): Ueber den Fuß der Chinesin, in: Zeitschrift für orthopädische Chirurgie 14, S. 339–356.

Helena Heroldová (2008): Příběh jedněch botiček, in: Cizí, jiné, exotické v české kultuře, hrsg. von Kateřina Bláhová und Václav Petrbok, Prag, S. 126–133.

Jasmin Mersmann (2023): Bis auf die Knochen. Gebundene Füße in anatomischen Sammlungen, in: unBinding Bodies, hrsg. von ders. und Evke Rulffes, Bielefeld, S. 119–129.

Hans Virchow (1903): Das Skelett eines verkrüppelten Chinesinnen-Fußes, in: Zeitschrift für Ethnologie 35:2, S. 266–316 und (1905): Weitere Mitteilungen über die Füße von Chinesinnen, in: ZfE 37:4, S. 546–568.

Objekt des Monats: Goethea strictiflora Hook aus der Sammlung: „Tropische und Subtropische Zierpflanzen“ der Humboldt-Universität zu Berlin

Objekt des Monats 05/2023 

Pflanzenbeschreibung

Die aus Brasilien stammende Goethea gehört zu den Malvengewächsen (Malvaceae). Sie bildet einen schwach verzweigten Strauch, der bis etwa 2 m hoch werden kann. Die über 20 cm langen gestielten ungeteilten Blätter sitzen einzeln am holzigen Spross. Die Anordnung der Blüten stellt eine Besonderheit dar, denn diese sind stammblütig (Kauliflorie) an sehr kurzen generativen Seitensprossen angeordnet. Diese Seitensprossen wachsen nur langsam und bilden besonders in der lichtreichen Jahreszeit immer wieder neue Blüten aus. Die Blüten selbst sind durch rote Kelchblätter als eigentlichen Schauapparat sehr attraktiv. Goethea findet als blühende Topfpflanze in normal geheizten Zimmern Verwendung und kann bei guter Pflege und passenden Standortbedingungen lange ausdauern.

Goethea_strictiflora als Topfblume_grüneberg
Topfblume PD Dr. Heiner Grüneberg

Historie

Nees von Esenbeck beschrieb 1821 die Gattung Goethea erstmalig. Zusammen mit C.F.P. Martius würdigte er damit den großen deutschen Dichter, Naturforscher und Botaniker Johann Wolfgang von Goethe, was aus seinem Brief an Goethe vom 24.06.1820 hervorgeht.

Aktuell unterscheidet man 6 verschiedene Arten (https://www.tropicos.org/), 2023). Die in der Sammlung der HU vorhandene Art wurde 1852 von William Jackson Hooker im Botanical Magazin erstmals wissenschaftlich dargestellt. Das tatsächliche Pflanzenmaterial der Sammlung stammt von 6 Stecklingen ab, die am 20.08.1993 vom Botanischen Garten Leipzig für Forschungszwecke zur Verfügung gestellt wurden. Anschließend begannen am damaligen Fachgebiet Zierpflanzenbau der HU-Berlin erste Untersuchungen zur Eignung dieser Pflanzenart als Neuheit für das Zierpflanzensortiment.

Im Laufe der Zeit konnten mehrere Graduierungsarbeiten von Studierenden sowie Veröffentlichen zu ausgewählten Forschungsgegenständen verfasst werden. Auch auf Pflanzenmessen (z.B. die Internationale Pflanzenmesse in Essen) oder auf Ausstellungen in Frankfurt am Main und Bonn zu Goethe-Festtagen wurden Pflanzen aus der Sammlung mit entsprechenden Beschreibungen präsentiert.

Goethea Ernährungsversuche_grunewald 2018
Ernährungsversuche PD Dr. Heiner Grüneberg

Ausgewählte Forschungsschwerpunkte während der Zeit in der Sammlung

  • Untersuchungen zur vegetativen Vermehrung durch Stecklingsauswahl und deren Auswirkungen auf das nachfolgende Wachstum
  • Forschungen zur Blütenbildung und -entwicklung, Wachstumsrhythmen
  • Untersuchungen zur Verzweigbarkeit, generative Seitentriebe und Spitzenförderung
  • Suche nach Optimalwerten hinsichtlich Licht und Temperatur
  • Post Harvest bei Transport, Lagerung und Haltbarkeit/Wiedererblühen beim Endverbraucher
  • Untersuchungen zu Blattdeformationen
Goethea_Stammblüten_grüneberg
Topfblume PD Dr. Heiner Grüneberg

Pflanzenpflege beim Endverbraucher

Goethea ist eine typische Warmhauspflanze, die am besten in normal geheizten Wohnräumen am hellen Fenster aufgestellt werden soll. Die Pflanzen benötigen gerade in der lichtreichen Jahreszeit ausreichend Wasser und Nährstoffe, wobei im Sommer alle 14 Tage mit einem ausgeglichenem Mehrnährstoffdünger flüssig 0,2%ig gedüngt werden muss. Im Winter genügt die Düngung alle 3 Wochen. Staunässe ist allgemein zu vermeiden, da sonst Blattaufhellungen (Chlorosen) entstehen können. Die Vermehrung ist durch Stecklinge möglich. An Schädlingen können besonders im Winter bei Lufttrockenheit Spinnmilben auftreten. Größere Pflanzen vertragen einen Rückschnitt bis auf ein Drittel der ursprünglichen Größe. Untere Blätter können zum besseren Sichtbarwerden der Blüten entfernt werden.

Von PD Dr. Heiner Grüneberg

Tropische und subtropische Zierpflanzen: https://www.sammlungen.hu-berlin.de/sammlungen/tropische-und-subtropische-zierpflanzen/