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Objekt des Monats: „Souvenir aus Yokohama“ Ein Lackalbum in der wissenschaftlichen Sammlung „Bestände der Mori-Ōgai-Gedenkstätte“

Objekt des Monats 12/2023

Dank einer bedeutenden Schenkung historischer Fotografien aus dem Japan der Meiji-Zeit (1868 –1912) ging ein kostbares Lackalbum in den Besitz der Humboldt-Universität zu Berlin über.

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Dem Atelier Adolfo Farsari zugeschriebenes lackiertes Fotoalbum (40 x 31cm) aus den späten 1890er Jahren. Es enthält fünfzig handkolorierte Aufnahmen (ca. 20 x 27cm), die sich typischerweise in „views“ und „costumes“ einteilen lassen.

Es wird in der wissenschaftlichen Sammlung „Bestände der Mori-Ōgai-Gedenkstätte“ bewahrt und momentan in der Mediathek des Grimm-Zentrums digital erschlossen. Auf den großformatigen Seiten sind fünfzig kolorierte Albumin-Abzüge montiert, die von liebevoll in Aquarellfarben ausgeführten Illustrationen gerahmt sind.

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Eine der Landschaftsaufnahmen zeigt die einst kaiserlichen Boten vorbehaltene „Heilige Brücke“ (Shinkyō), welche zur Schreinanlage in Nikkō führt (Weltkulturerbe). Ein Symbol der Moderne, der Strommast am rechten Ufer des Daiya-Flusses, wurde durch die Kolorierung offenbar bewusst verborgen. Die Aufnahme wird oftmals Tamamura Kōzaburō zugeschrieben, der mit Adolfo Farsari zusammenarbeitete (späte 1890er Jahre).

Angaben zu den Urheber:innen der Fotografien, aber auch zu ihrem Alter fehlen. Wann und wie das Album nach Europa gelangte, ist nicht bekannt. Den einzigen Hinweis bildet eine zarte Eintragung mit Bleistift auf der ansonsten leeren dritten Seite. Sie lautet „Farsari“ und ordnet das Objekt somit der im ausgehenden 19. Jahrhundert weltweit nachgefragten „Yokohama-Fotografie“ zu.

In der Mitte des 19. Jahrhunderts hatte die Dynamik der globalen Geschichte auch Japan aus der „idyllischen Stille“ (Mori Ōgai) gerissen. Nach mehr als zweihundert Jahren der selbst gewählten Isolation öffnete sich das Inselreich der wissenschaftlich-technisch geprägten Zivilisation des „Westens“. Zwar gestaltete sich die touristische Entdeckung der fernen Destination zunächst mühsam, doch wurde das „Land der aufgehenden Sonne“ rasch zu einem neuen Sehnsuchtsort der reisenden Schichten Europas. Ästhetische Strömungen wie der aufblühende Japonismus und ein zunehmend zivilisationskritischer Zeitgeist wirkten zusammen, um das angesagte Reiseziel leidenschaftlich zu imaginieren.

Nach dem Frühstück steigen wir zu den Tempeln empor, über lange Stufenreihen in rauschenden Hainen, durch deren dunkles Laub das Meer hindurchleuchtet. Was Griechenland einmal war aber nicht mehr ist, was man [ … ] von seiner Schönheit träumt, das ist in dieser Landschaft zur Wahrheit geworden.
(Harry Graf Kessler, Tagebuch, 15. April 1892)

Bereits seit den 1860er Jahren unterhielten europäische und japanische Fotografen Ateliers in Yokohama – der Hafenstadt, die den meisten Reisenden zur An- und Abreise diente. Die Ateliers produzierten vorwiegend für Tourist:innen, die einzelne Abzüge oder kunstvoll gearbeitete Alben erwarben. Als Begründer der „Yokohama-Fotografie“ gilt Felice Beato (1832–1909). In den frühen Jahren seiner japanischen Schaffensperiode hielt der italienisch-britische Fotograf Eindrücke einer zauberhaft scheinenden Welt fest, die von der westlichen Zivilisation vermeintlich noch kaum berührt war. Sein Atelier popularisierte die Anfertigung von Abzügen auf Albuminpapier. Seine Schüler und Konkurrenten – unter ihnen Adolfo Farsari (1841–1898) und Tamamura Kōzaburō (1841–1932) – reagierten auf die rasch wachsende Nachfrage. Zunächst kamen Genrebilder, später auch Landschaftsansichten koloriert auf den Markt.

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Die Genrebilder im Album nehmen den traditionellen Alltag des Landes in den (europäischen) Blick. Hier eine Dame im Kimono, die einen reich verzierten Obi-Gürtel bindet. Die Aufmerksamkeit gilt ganz dem „in Seide gewobenen Gemälde“ (Curt Netto). Wahrscheinlich Tamamura Kōzaburō, späte 1890er Jahre.

Die Mitarbeiter:innen, welche diese Abzüge kunstvoll mit Farbe versahen, brachten Fertigkeiten aus der Herstellung von Holzschnitten mit. Dank des kostengünstigen Verfahrens, das detailreiche und ansprechende Ergebnisse lieferte, wurden bald jährlich zehntausende von Kopien produziert und nach Übersee verkauft.

Fotografie und Tourismus standen in einer fruchtbaren Wechselbeziehung. Den Reisenden im ausgehenden 19. Jahrhundert waren die Bilder wohlbekannt. Sie formten Sehnsüchte und Erwartungen; sie definierten Sehenswertes. Die Nachfrage aus Europa und Nordamerika, der eine lebhafte Rezeption japanischer Farbholzschnitte vorausgegangen war, übte ihrerseits großen Einfluss auf die Wahl von Motiven, Perspektiven und Farben aus. Indem Tourist:innen aus tausenden von Aufnahmen wählten, konnten sie ein Album ‚ihrer‘ Erfahrungen als Souvenir zusammenstellen.

Die eingangs erwähnte Schenkung ist einem privaten Sammler zu danken und erfolgte 2021 in Erinnerung an den Privatbankier Moritz Friedrich Bonte (11. Juli 1847 Magdeburg – 18. Juli 1938 Berlin). Die zwölf Alben und insgesamt mehr als 700 Fotografien bilden eine kostbare Quelle für die Arbeit der Mori-Ōgai-Gedenkstätte, die sich mit der Vielfalt der Begegnungen zwischen Japan und Europa während des Übergangs in die Moderne beschäftigt. Das „Souvenir aus Yokohama“ und eine Auswahl von Fotografien werden ab Anfang 2024 in einer Sonderausstellung in der Gedenkstätte zu sehen sein. Tokyo Views stimmt auf das Jubiläum der Städtepartnerschaft Tokyo-Berlin ein, das im kommenden Jahr ansteht und wendet sich der touristischen Wahrnehmung der japanischen Metropole an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert zu. Sie erläutert zeitgenössische Konzepte der Sehenswürdigkeit und stellt eine Reihe „namhafter Orte“ (meisho) vor.

Autor: Harald Salomon
Wissenschaftlicher Leiter der Mori-Ōgai-Gedenkstätte

Die Angaben zu den Fotografien wurden von Studierenden des Instituts für Asien- und Afrikawissenschaften erarbeitet.

Mori-Ōgai-Gedenkstätte der Humboldt-Universität zu Berlin
Luisenstr. 39, 10117 Berlin
Tel. 030-2093-66933
E-Mail: mori-ogai@hu-berlin.de
Website: https://www.iaaw.hu-berlin.de/de/region/ostasien/seminar/mori
Öffnungszeiten: dienstags bis freitags 12-16 Uhr; donnerstags 12-18 Uhr