Bild 1 - Delphinschädel

Objekt des Monats: Der Dichter und der Delphinschädel

Objekt des Monats 07/2023

Der Dichter Adelbert von Chamisso (1781–1838) dürfte den meisten Menschen als Autor der 1814 erschienenen fantastischen Erzählung „Peter Schlemihls wundersame Geschichte“ geläufig sein. Darin verkauft der Protagonist seinen Schatten an den Teufel und verfällt damit der gesellschaftlichen Ächtung. Weit weniger bekannt ist Chamissos Bedeutung als Naturforscher. Er war auf den Gebieten der Ethnologie, der Zoologie und vor allem der Botanik tätig. Von 1815 bis 1818 nahm er an der Weltumsegelung des russischen Forschungsschiffes Rurik teil (Chamisso 2012). Eines der wesentlichen Ergebnisse dieser Fahrt war die Aufdeckung des Generationswechsels der Salpen durch Chamisso. Er konnte nicht nur die abwechselnde Bildung geschlechtlicher und ungeschlechtlicher Generationen dieser planktischen Organismen entschlüsseln, sondern war einer der ersten Forscher überhaupt, die den Zusammenhang von Larven und Generationsfolgen mariner Tiere erkannt haben (Glaubrecht & Dohle 2012).

Bild 1 - Delphinschädel
Der hier von zwei Seiten abgebildete, zersägte Delphinschädel stammt von Chamissos Weltumsegelung an Bord des russischen Forschungsschiffes ‚Rurik‘. (Foto: G. Scholtz)
Der hier von zwei Seiten abgebildete, zersägte Delphinschädel stammt ebenfalls von dieser Fahrt. In seinem Buch „Reise um die Welt“ erwähnt Chamisso Delphine u.a. in den Notizen vom 12. Mai und 4. Juni 1816: „Ein Delphin wurde harpuniert, der erste dessen wir habhaft wurden – er diente uns zu einer willkommenen Speise.“ „…Am 4. ward ein zweiter Delphin von einer anderen Art harpuniert.“ Insgesamt berichtet Chamisso über den Fang von sechs Delphinen, deren Schädel er sämtlich dem „Zootomischen Museum zu Berlin“ überlassen hat. Diese Aussage wird durch das Inventarverzeichnis der zootomischen Sammlung bestätigt, da dort sechs von Chamisso gesammelte Delphinschädel aufgeführt werden. Der Eintrag im Inventarbuch unter der Nummer 3956 für den hier gezeigten Schädel besagt: „Crania Delphini n. sp. … cl. a Chamisso ex itinere trans orbem attulit.“
Bild 2 - Crania Delphini
Crania Delphini n. sp. a 3955 diversa. illi Delphini dubii Cuv. oss. foss. affinea aut vero sumuliter (simuliter?) eodem (Übersetzung: Delphinschädel n. sp. (neue Art) von 3955 verschieden. Die ausgegrabenen Knochen ähneln denen von Delphinus dubius (Cuvier) oder sind sogar völlig gleich.) cl. a Chamisso ex itinere trans orbem mundum attulit. (Übersetzung: Von Chamisso gesammelt, brachte er sie von seiner Reise um die Welt mit.)
Im Jahre 1999 wurden der Schädel und ein Unterkiefer aus der anatomischen Sammlung der Charité der Zoologischen Lehrsammlung der Humboldt Universität (s. Scholtz 2018) überlassen. Die historische Bedeutung dieser Gegenstände blieb über 10 Jahre unbemerkt. Erst als es im Rahmen des DFG-Projektes „Die Aneignung des Weltwissens – Adelbert von Chamissos Weltreise“ eine Anfrage aus Hamburg über den Verbleib eines von Chamisso gesammelten Delphinschädels gab, führten eigene Provenienz-Recherchen zur Identifikation des Objektes. Weitere von Chamisso gesammelte Delphinschädel wurden im Bestand des Museums für Naturkunde identifiziert. Ein Abgleich mit den Notizen in Chamissos Reisetagebüchern (Sproll et al. 2023) bietet nun die Möglichkeit, herauszufinden, um welche der sechs in den Tagebüchern erwähnten Schädel und um welche Delphinarten es sich handelt.
Bild 3 - Adelbert von Chamisso in der Südsee
Aquarelliertes Porträt Chamissos unter Palmen im Pazifik von Ludwig Choris von 1817 (Sammlung Stiftung Stadtmuseum Berlin, Reproduktion: Oliver Ziebe, Berlin, Papier, Blatt: H: 22,80 cm, B: 18,40 cm, Inv.Nr.: TA 00/2026 HZ)

Chamisso war wie zahlreiche seiner wissenschaftlich tätigen Zeitgenossen Mitglied der „Gesellschaft Naturforschender Freunde zu Berlin“. Als ein typisches Kind der Aufklärung wurde diese private Vereinigung am 9. Juli 1773 in der Wohnung des Berliner Arztes Dr. Friedrich Heinrich Wilhelm Martini aus der Taufe gehoben (Böhme-Kassler 2005). Die sieben Gründungsmitglieder zeigten über ihre Professionen als Ärzte, Apotheker, Astronom, königlicher Kriegsrat und königliche Verwalter hinaus großes Interesse an naturwissenschaftlichen Fragen und waren stolze Besitzer von Naturaliensammlungen. Martini, der die Gründung initiierte, war beispielsweise ein engagierter Weichtierkundler und der Apotheker Marcus Élieser Bloch interessierte sich für Fische. Die schließlich zwölf ordentlichen Mitglieder trafen sich regelmäßig in ihren Privatwohnungen, diskutierten über naturkundliche Fragen und stellten ihre neuerworbenen Sammlungsgegenstände vor. Assoziierte und Ehrenmitglieder wurden zusätzlich bestimmt. Nicht zuletzt die Gründung der Berliner Universität im Jahre 1810 ließ die Mitgliederzahlen stark ansteigen. Als Chamisso im Jahre 1819 in die GNF gewählt wurde, gehörte es bereits zum guten Ton, die Mitgliedschaft neben der in anderen nationalen und internationalen Vereinigungen und Akademien aufzuführen. Die explosive Entwicklung naturwissenschaftlicher Forschung im 19. Jahrhundert fand auch ihren Niederschlag in der GNF. Sie wuchs beständig, und vor allem die große Zahl herausragender Forschungspersönlichkeiten, die ihr angehörten, zeigt ihre historische Bedeutung. Dabei wechselte der Schwerpunkt der Interessen immer mehr in Richtung biologischer Fragestellungen. Dementsprechend war die Gesellschaft eng mit dem Museum für Naturkunde verbunden, und mit Beginn des 20. Jahrhunderts fanden dort die Sitzungen statt. Der 2. Weltkrieg führte zu einer Zäsur der Aktivitäten der GNF. Im Jahre 1955 erfolgte die Wiederbelebung an der neugegründeten Freien Universität im Westteil Berlins, wo die Gesellschaft auch heute noch ihren Sitz hat. Die GNF hat sich von Beginn an der Förderung und Verbreitung naturwissenschaftlicher Erkenntnisse verschrieben. Diesem Ideal folgt sie auch heute noch. Sie ist eng mit den großen Berliner Universitäten und dem Museum für Naturkunde verbunden. Sie verleiht jährlich einen Preis für herausragende biologische Bachelor- und Masterarbeiten. Es finden nach wie vor regelgemäße Treffen mit wissenschaftlichen Vorträgen sowie Exkursionen statt. Sie ist die älteste noch existierende, private naturforschende Gesellschaft in Deutschland. Die GNF begeht am 9. Juli 2023 ihr 250-jähriges Bestehen im Hörsaal der Zoologie an der Freien Universität Berlin mit einem Kolloquium. Außerdem beleuchtet eine im Namen des Vorstands herausgegebene Festschrift Aspekte ihrer langen Geschichte (Scholtz et al. 2023).

Von Prof. Dr. Gerhard Scholtz

Links
Zoologische Lehrsammlung der Humboldt-Universität zu Berlin
Salpen (Feuerwalzen), Feuchtpräparat

Literatur
Böhme-Kassler, K. 2005 Gemeinschaftsunternehmen Naturforschung. Modifikation und Tradition in der Gesellschaft Naturforschender Freunde zu Berlin 1773 – 1906. Franz Steiner, Stuttgart.

Chamisso, A. von 2012 Reise um die Welt (Nachdruck). Die Andere Bibliothek, Berlin

Glaubrecht, M. & Dohle, W. 2012 Discovering the alternation generations in salps (Tunicata, Thaliacea): Adelbert von Chamisso’s dissertation “De Salpa” 1819 its material, origin and reception in the early nineteenth century. Zoosystenatics and Evolution 88: 317-363.

Scholtz, G. 2018 Zoologische Lehrsammlung (Zoological Teaching Collection). In: Beck, L.A. (Hrsg.). Zoological Collections of Germany – The animal kingdom in its amazing plenty at museums and universities. Springer, Berlin, pp. 123-134.

Scholtz, G., Sudhaus, W. & Wessel, A. (Hrsg.) 2023 Festschrift zum 250-jährigen Bestehen der Gesellschaft. Sitzungsberichte der Gesellschaft Naturforschender Freunde zu Berlin 57 (NF): 5-320.

Sproll, M., Erhart, W. & Glaubrecht, M. (Hrsg.) 2023 Adelbert von Chamisso: Die Tagebücher der Weltreise 1815-1818, Edition der handschriftlichen Bücher aus dem Nachlass. Brill/V&R Unipress, Göttingen.