Fuß einer 32 jähr. chin. Frau

Objekt des Monats: Fotografische Reproduktion des Röntgenbildes eines gebundenen Fußes

Objekt des Monats 06/2023

Über einen Zeitraum von tausend Jahren wurden chinesischen Mädchen die Füße gebunden, um sie zu verkürzen. Europäer:innen blickten mit einer Mischung aus Faszination und Befremden auf diese Schönheitspraxis. Im 19. Jahrhundert interessierten sich auch Mediziner für die gebundenen Füße, einer von ihnen war der Berliner Anatom Hans Virchow, dessen podologische Sammlung sich heute im Centrum für Anatomie der HU befindet.

Zu dieser Sammlung gehört auch das hier präsentierte Objekt, ein auf Karton geklebter Abzug eines Röntgenbildes (vgl. zu diesem https://www.sammlungen.hu-berlin.de/objekte/sammlung-am-centrum-fuer-anatomie/8468/), der handschriftlich mit „Fuß einer 32 jähr. chin. Frau“ bezeichnet ist.

Fuß einer 32 jähr. chin. Frau
Fotografische Reproduktion des Röntgenbildes eines gebundenen Fußes, Foto: Felix Sattler

Das Skelett zeigt die charakteristischen Merkmale gebundener Füße: Die kleinen Zehen sind unter die Sohle gekrümmt, der Spann ist nach oben gewölbt. Außer der extremen Verkürzung springt vor allem die genagelte Sohle ins Auge – offensichtlich wurde das Röntgenbild durch den Schuh aufgenommen.

Wie es dazu kam, lässt sich der „Zeitschrift für Ethnologie“ entnehmen: Im März 1905 lud Hans Virchow die Mitglieder der Anthropologischen Gesellschaft ins Foyer des Berliner Zirkus Schumann „zur Besichtigung der gegenwärtig hier weilenden Chinesentruppe“, um sich „von der Kleinheit und Umformung der Chinesinnenfüsse“ zu überzeugen. Über die Identität der „Truppe“ geben Anzeigen und zeitgenössische Quellen Aufschluss. Es handelte sich um den Zauberer Ching Ling Foo und die „berühmten kleinfüssigen Frauen“: seine Ehefrau (die „32 jähr. chin. Frau“), ihre Tochter Chee Toy und Chee Roan, deren Name auf einer Fotografie im Náprstek-Museum Prag, einer anderen Etappe ihrer Europatournee, vermerkt ist (vgl. Heroldová 2008). 

Fotografie im Náprstek-Museum Prag
Ching Ling Foo, seine Frau, Chee Roan und Chee Toy im Náprstek-Museum, 1905, Schwarzweißfotografie auf Karton, © Náprstek-Museum Prag

Schon in der Einladung hatte Virchow Hoffnungen auf eine Inspektion unverhüllter Füße gedämpft, „denn bekanntlich [seien] die chinesischen Frauen in bezug auf ihre Füsse besonders diffizil“. Tatsächlich wurden gebundene Füße in China nie öffentlich nackt gezeigt. Ausländische Fotografen und Ärzte brachen im 19. Jahrhundert vielfach das Blicktabu, indem sie Frauen mit Geld und Geschenken bedrängten. Auch die Artistinnen verweigerten sich dem zudringlichen Blick, ließen sich aber zu Röntgenaufnahmen bewegen – durch den Schuh. Ob dies, wie James Fränkel in der „Zeitschrift für orthopädische Chirurgie“ behauptet, nur gelang, weil die Frauen das 1895 entdeckte Verfahren nicht kannten oder ob er hier den Topos des heimlichen „Röntgenblicks“ bemühte, lässt sich nicht entscheiden. Die Aufnahme jedenfalls zeugt nicht nur von dem übergriffigen medizinischen Blick, sondern auch von dem Widerstand der Frauen.

Für die Anatomen war die Kampagne ein Erfolg, denn sie erlaubte nicht nur die Füße in drei Stadien der Verformung zu sehen, sondern – wider das populäre Vorurteil von der Gehunfähigkeit – auch in Bewegung. Für die Publikation der Untersuchungsergebnisse nahm Virchow mehrfache Überarbeitungen an den Röntgenbildern vor: Er drehte und retuschierte die Aufnahmen, um sie besser lesbar zu machen (vgl. Dünkel 2021). Für ihn war der Ortstermin weder die erste noch die letzte Begegnung mit gebundenen Füßen. Schon 1903 hatte er ein nach dem Ersten Opiumkrieg in die Berliner Sammlung gelangtes Feuchtpräparat untersucht, 1912 mazerierte er die Füße einer an Typhus verstorbenen Frau, die er im Zuge des „Boxerkriegs“, der Niederschlagung der Yihetuan-Bewegung, erhalten hatte. Hatten Mediziner im 19. Jahrhundert neben dem Blicktabu immer wieder auch den mangelnden Zugang zu chinesischen Leichen beklagt, änderte sich die Situation durch die Einrichtung von Missionskrankenhäusern und die Kolonialkriege. Bald besaß fast jede anatomische Sammlung der Imperialmächte Präparate gebundener Füße – einige davon aus geplünderten Gräbern. Auch Virchows Sammlung von Abgüssen, Modellen und Knochen gebundener Füße verdankt sich den kolonialen Bedingungen. Die Ausstellung „unBinding Bodies“ im gegenüberliegenden Tieranatomischen Theater hat es sich zur Aufgabe gemacht, die sensiblen Objekte neu zu kontextualisieren. Im Fokus stehen nicht die Füße, sondern die chinesischen Frauen und ihre Lebenswelten. Die Ausstellung läuft bis zum 31. August.

Jasmin Mersmann und Evke Rulffes

Ausstellung
unBinding Bodies. Lotosschuhe und Korsett im TA T

Katalog
unBinding Bodies – Zur Geschichte des Füßebindens in China
Jasmin Mersmann / Evke Rulffes (Hg.)
transcript Verlag, 2023. Open Access.

Literatur
Vera Dünkel (2021): Beyond Retouching. Hans Virchow‘s Mixed Media and his X-ray Drawings of the Lotus Foot, in: Hybrid Photography, hrsg. von Sara Hillnhuetter, Stefanie Klamm, Friedrich Tietjen, London/New York, S. 79–88.

James Fränkel (1905): Ueber den Fuß der Chinesin, in: Zeitschrift für orthopädische Chirurgie 14, S. 339–356.

Helena Heroldová (2008): Příběh jedněch botiček, in: Cizí, jiné, exotické v české kultuře, hrsg. von Kateřina Bláhová und Václav Petrbok, Prag, S. 126–133.

Jasmin Mersmann (2023): Bis auf die Knochen. Gebundene Füße in anatomischen Sammlungen, in: unBinding Bodies, hrsg. von ders. und Evke Rulffes, Bielefeld, S. 119–129.

Hans Virchow (1903): Das Skelett eines verkrüppelten Chinesinnen-Fußes, in: Zeitschrift für Ethnologie 35:2, S. 266–316 und (1905): Weitere Mitteilungen über die Füße von Chinesinnen, in: ZfE 37:4, S. 546–568.