Objekt des Monats 11/2024
Am 26. August 1907 schreibt der an der Friedrich-Wilhelms-Universität tätige Alttestamentler Hugo Gressmann (1877–1927) an seinen Gießener Kollegen und Freund Hermann Gunkel (1862–1932), er habe „den Plan, neue Lichtbilder machen zu lassen. Die Lichtbilder sollen dienen für den Unterricht in der höheren Schule und an der Univ.[ersität]. … Da Prof. Schäfer vom ägypt. Museum mir seine tatkräftige Hilfe zugesagt hat und da mir auch die Diapositive der D[eutschen]O[rient]G[esellschaft] zur Verfügung stehen, hoffe ich die Sammlung unseres Seminars beträchtlich zu vermehren. Das würde auch mir hübsche Drucke geben: Illustrationen für A[ltes]T[estament]., besonders profane, Kulturgeschichtliches, an denen es zur Zeit ganz fehlt.“
Die hier angesprochene Sammlung bildet den Grundstock der Sammlung Historischer Palästinabilder, die sich bis heute am Seminar für Altes Testament an der Theologischen Fakultät der Humboldt-Universität befindet. Sie umfasst rund 2000 Glasplattendias, die im Wesentlichen Hugo Gressmann bis zu seinem plötzlichen Tod auf einer Vortragsreise durch die USA 1927 gesammelt hatte. Die Fotografien wurden zwischen dem ausgehenden 19. und dem frühen 20. Jahrhundert angefertigt. Sie zielen auf eine visuelle Erfassung der biblischen Lebenswelten. Dementsprechend bieten die Fotografien Bilder aus dem östlichen Mittelmeerraum und der südlichen Levante. Der Schwerpunkt liegt auf Ortslagen, die in der Bibel genannt werden. Diese befinden sich heute auf dem Gebiet Syriens, des Libanon, Jordaniens, Israels und Palästinas. Bildmotive sind Landschaften, antike und zeitgenössische Gebäude (Tempel, Kirchen, Moscheen), Menschen, Tiere und Pflanzen. Die überwiegende Zahl der Glasplattendias wurde von professionellen Verlagen produziert.
Gressmann hatte Israel/Palästina 1906/1907 im Rahmen eines landeskundlichen Lehrkurses, der vom 1900 gegründeten und bis heute mit Sitz in Jerusalem und Amman bestehenden Deutschen Evangelischen Institut für Altertumswissenschaft des Heiligen Landes durchgeführt wurde, bereist und dabei selbst zahlreiche Fotografien angefertigt. Unter dem Eindruck der Erfahrungen auf dieser Reise bettete er die Erschließung der materialen Kultur fest in den Methodenkanon der alttestamentlichen Wissenschaft ein. Seine Altorientalischen Bilder zum Alten Testament (1909, zweite Auflage 1927) wurden ein Standardwerk. Als Vertreter der Religionsgeschichtlichen Schule und gemäß seinem Verständnis der Theologie als Kulturwissenschaft lag es ihm am Herzen, die biblischen Texte im Kontext altorientalischer und ägyptischer Texte und Bilder sowie vor dem Hintergrund der konkreten Lebensverhältnisse zu verstehen. Hierbei bemühte er sich auch intensiv darum, seine Erkenntnisse über die Grenzen der Universität hinaus an ein interessiertes Publikum in Wort und Bild zu vermitteln. Als ein Organ dienten ihm die zu Beginn des 20. Jahrhunderts von Friedrich Michael Schiele herausgegebenen Religionsgeschichtlichen Volksbücher für die deutsche christliche Gegenwart, in denen er über die aktuellen Ausgrabungen in Palästina informierte (RV III/10, 1908).
Die Sammlung Historischer Palästinabilder beinhaltet inzwischen auch Glasplattendias aus dem Nachlass des Berliner Alttestamentlers Gottfried Quell (1896–1976). Durch die Leihgabe der Bibliothek des seit 1877 bestehenden Deutschen Vereins zur Erforschung Palästinas wird sie literarisch sehr gut erschlossen. Die Sammlung hat eine hohe Bedeutung für die historische Topografie, für die Geschichte der Archäologie, für die landschaftliche und städtebauliche Oberflächenstruktur des vorindustriellen Israel/Palästina, aber auch für die historische Ethnologie und Anthropologie sowie für das eurozentrische Orientbild im ausgehenden 19. und frühen 20. Jahrhundert.
Zahlreiche Fotografien zeigen wichtige Städte des Nahen Ostens. Aus dieser Motivgruppe sind nun für das Objekt des Monats November 2024 fünf Ansichten von Städten oder einzelner Bauwerke auf dem Boden dieser Städte ausgewählt worden. Dabei handelt es sich um Stätten, die aufgrund der aktuellen politischen Lage im Brennpunkt der internationalen Wahrnehmung stehen und die aufgrund der kriegerischen Ereignisse sehr bedroht sind. So zeigt Foto Nr. 1 das Minarett der Großen Moschee von Gaza, die auf der aus dem 12. Jahrhundert stammenden Kirche Johannes des Täufers erbaut wurde. Foto Nr. 2 bietet in kolorierter Form eine Ansicht von Aleppo. Foto Nr. 3 gewährt einen Blick auf Beirut. Foto Nr. 4 zeigt den Sonnentempel von Baalbek. Foto Nr. 5 erlaubt eine Sicht auf Jerusalem, vom Ölberg über das Kidrontal hin zum Felsendom, mit einer zur Totenklage versammelten jüdischen Gemeinde. Die hier vergossenen Tränen mögen stellvertretend für all die Tränen stehen, die derzeit Menschen im Nahen Osten angesichts der Zerstörungen in ihrem unmittelbaren Umfeld erleben.
Eine umfassende Dokumentation der Sammlung Historischer Palästinabilder bieten Sascha Gebauer, Rüdiger Liwak und Peter Welten in dem Buch Pilger, Forscher, Abenteurer. Das Heilige Land in frühen Fotografien der Sammlung Greßmann, Leipzig 2014. Die eingangs zitierte Passage stammt aus einem Konvolut von Briefen Gressmanns an Gunkel, das im Rahmen eines aktuellen Forschungsprojekts von Sascha Gebauer und Markus Witte kritisch ediert werden soll. Über Gressmann und sein Werk informieren ausführlich Sascha Gebauer, Hugo Greßmann und sein Programm der Religionsgeschichte, Berlin/Boston 2020, sowie knapp Markus Witte, „Hugo Gressmann (1877–1927) – Ein Leben für die Geschichte der Religion“, in: Biblische Notizen 179 (2018) 108–120.
Webseite der Sammlung Historischer Palästinabilder:
https://www.theologie.hu-berlin.de/de/professuren/stellen/at/palaestina
Abbildungsverzeichnis:
Nr. 1 (Gaza): American Colony Magic Lantern Slides, Fr. Vester & Co, Jerusalem, Palestine.
Nr. 2 (Aleppo): Th. Benzinger, Lichtbildverlag, Stuttgart.
Nr. 3 (Beirut): American Colony Magic Lantern Slides, Fr. Vester & Co, Jerusalem, Palestine.
Nr. 4 (Baalbek): Kunst-Verlag Bruno Hentschel, Leipzig.
Nr. 5 (Jerusalem): Kunst-Verlag Bruno Hentschel, Leipzig.
Bildquelle:
https://rs.cms.hu-berlin.de/palaestina/pages/search.php?search=%21collection2&k=4b9927904c
Kontakt:
Prof. Dr. Markus Witte
Seminar für Altes Testament
Theologische Fakultät
Humboldt-Universität zu Berlin
markus.witte@hu-berlin.de