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Objekt des Monats: Eine indische Tablā (dāyāṃ) im Lautarchiv

Objekt des Monats 04/2023 

Das Lautarchiv der Humboldt-Universität zu Berlin bewahrt neben seinen Kernbeständen an Audioaufnahmen von Kriegsgefangenen aus dem Ersten Weltkrieg und der Sammlung deutscher Dialekte aus den 1920er- und 1930er-Jahren noch weitere interessante Teilbestände, die bislang eher im Hintergrund standen und zunächst keinen offensichtlichen Zusammenhang zur Sammlung zu haben scheinen. Zum Beispiel drei indische Trommeln.

Zu diesen Instrumenten existiert keine historische schriftliche Dokumentation. Ein Inventarbucheintrag, aus dem hervorginge, wie, warum und woher sie in die Sammlung des Lautarchivs gelangt sind, liegt nicht vor. Instrumentenkundlich bilden die drei Trommeln kein zusammenhängendes Ensemble. Eine dieser Trommeln – eine indische Tablā (dāyāṃ) – soll hier einmal in den Fokus gestellt werden.

Tabla
Eine indische Tablā (dāyāṃ) im Lautarchiv.
Tabla Draufsicht
Tablā (Draufsicht, ⌀ 20cm); mit der charakteristischen schwarzen Stimmpaste (shāī) in der Mitte. Bei den weißen Flecken handelt es sich um Rückstände unsachgemäß angebrachter Aufkleber, die nicht mehr erhalten sind.

Zum Instrument

Tablā ist die Bezeichnung für ein mit den Händen gespieltes, aus zwei kleinen Kesseltrommeln bestehendes Trommelpaar. Die mit der rechten Hand gespielte, kleinere der beiden Trommeln heißt auch dāyāṃ (wörtlich: rechts), die in einigen Publikationen manchmal als die „eigentliche“ Tablā bezeichnet wird. Die mit der linken Hand gespielte, größere Trommel heißt bāyāṃ (wörtlich: links). Im Lautarchiv befindet sich nur eine dāyāṃ; das Trommelpaar ist unvollständig. Die Tablā ist mehr als ein bloßes „Objekt“; sie fordert Musiker*innen den Respekt ab, als Individuum behandelt zu werden: Instrument und Musiker*innen werden in gewissem Sinne Eins. Die Trommeln stehen auf dem Fußboden und werden im Schneidersitz gespielt. Es darf aber nicht einfach über eine auf dem Fußboden stehende Tablā hinweggeschritten werden; dies gilt als respektlos.

Zur Provenienz: tentativ-spekulative Denkrichtungen

Einige spekulative Denkrichtungen zur Provenienz seien hier aufgrund fehlender Dokumentation skizziert:

  • Nicht zurückgegebene Leihgabe?
    Zunächst einmal drängt sich der spekulative Gedanke auf, ob es sich möglicherweise um eine historische Leihgabe aus dem Musikinstrumenten-Museum SIMPK oder dem Ethnologischen Museum handeln könnte. Dies kann für das MIM aufgrund einer fehlenden Kat.-Nr. des MIM am Instrument ausgeschlossen werden. Ebenso für das Ethnologische Museum.
  • Gastgeschenk?
    Nach Auskunft von Dieter Mehnert, der in den 1990er-Jahren für die Sammlung zuständig war, hieß es seit 1960, die Trommeln seien aus Indien „mitgebracht“ worden. Nähere Umständen seien nicht bekannt gewesen. Ob es sich also um ein im Lautarchiv abgelegtes Gastgeschenk an die Universität handelt, muss offenbleiben.
  • Alter des Instruments?
    Auch wenn das Instrument vermutlich vor 1960 in das Lautarchiv gekommen ist, lässt dies keinen Schluss auf das Alter des Instruments zu. Es könnte wesentlich älter sein. Belastbar wäre das Alter nur durch eine dendrochronologische Untersuchung festzustellen (eine Datierung über eine Baumringuntersuchung der verwendeten Hölzer), nicht durch bloßen Augenschein.

Im ideellen Kontext der Sammlung

Zwar lässt sich kein direkter Zusammenhang der Tablā mit den übrigen Beständen des Lautarchivs rekonstruieren, doch steht die Tablā im Lautarchiv keineswegs in einem kulturell isoliertem Raum. Es bestehen interessante Querbezüge innerhalb der Sammlung, die der Tatsache, dass sich im Lautarchiv eine Tablā befindet, einen ideellen Kontext verleihen. Man denke daran, dass der Nobelpreisträger Rabīndranāth Ṭhākur (রবীন্দ্রনাথ ঠাকুর,1861–1941) im Juni 1921 an der Friedrich-Wilhelms-Universität eine Rede gehalten und ein Lied gesungen hat. Diese Aufnahme befindet sich heute im Lautarchiv (Signatur AUT 48). Ob es sich gar um ein Geschenk von Rabīndranāth Ṭhākur handeln könnte, kann auf der Grundlage des heutigen Wissenstandes noch nicht ermittelt werden. – Ein am 28. September 1926 von Rājamāṇikkam (*um 1902) in der Sprache Tamiḻ (தமிழ்) eingesungenes, mit Tablā begleitetes Lied (Signatur LA 733), gehört leider zu den Verlusten des Lautarchivs.

Symbolkraft einer Tablā im Lautarchiv

Nicht zuletzt steht die Tablā auch symbolisch „inmitten“ der Kriegsgefangenenaufnahmen von indischen Kolonialsoldaten, die das Vereinigte Königreich gegen Deutschland in den Ersten Weltkrieg geschickt hatte. Einer der bekanntesten zyklisch wiederholten rhythmischen Strukturen der nordindischen klassischen Musik ist der sogenannte Tintal (तीन ताल). Seine rhythmisch ausgewogene Gliederung in 16 Trommelsilben (bol), die wiederum in 4×4 Silben unterteilt sind, galt niemand Geringerem als Ravi Shankar (1920–2012) als Symbolkraft für den Frieden. Es sei jedem/jeder selbst überlassen, ob auch die Existenz einer Tablā in der Sammlung des Lautarchivs, „inmitten“ der Audioaufnahmen von Kriegsgefangenen des Ersten Weltkrieges, eine solche Symbolkraft des Friedens annehmen und entfalten kann.

Text und Fotos: Christopher Li, Sammlungsleitung Lautarchiv

Objekt des Monats: Historische Zeichnung eines Pferdestall-Neubaus

Objekt des Monats 03/2023

Das Haus 9 auf dem Campus Nord diente einst als Pferdeklinik der ehemaligen Königlichen Tierarzneischule Preußens, die eine der führenden Ausbildungs- und Forschungsstätten für Veterinärmedizin im jungen Kaiserreich Deutschland war. Der nördliche Teil des Gebäudes wurde 1836 von Ludwig Ferdinand Hesse, der südliche Teil 1874 von Julius Emmerich als Erweiterungsbau gebaut. Eine Zeichnung aus dem Planarchiv der Technischen Abteilung liefert Informationen zur Entstehung des Erweiterungsbaus.
HU, Campus Nord, Haus 9
Campus Nord, Haus 9, Foto: Kerstin Hinrichs, 14. März 2023
Die Zeichnung des Architekten Julius Emmerich zeigt die Vorderfront eines langgezogenen eingeschossigen Stallbaus mit hohem Dach, gerahmt von Treppentürmen und Querriegeln im Maßstab 1:100. Die Mitte betont ein Risalit mit holzverziertem Dachgiebel, links und rechts je drei Fensterachsen. Im Erdgeschoss doppelflügelige Fenster, die mit den Dachfenstern eine Flucht bilden und somit den Kubus vertikal gliedern. Im Giebel des Risaliten, auf der Höhe des Dachbodens, eine doppelflügelige Lamellentür, über die Stroh und Heu im Dachboden eingelagert werden konnten. Die Türme dienten als Zugang zu den Arbeits- und Wohnräumen der Tierpfleger in den Querriegeln. Die Form des Daches, die profilierten Balkenköpfe und Konsolen, die Betonung der Gesimse durch Formsteine sowie die alternierenden farbigen Ziegelbänder sind sehr detailliert in der Zeichnung dargestellt. Emmerichs Entwurf lehnt an Entwürfe Schinkels für preußischen Landhausbauten an. Bäume und Büsche rahmen das geplante Gebäude und verweisen auf den Parkcharakter des Grundstücks.
Projekt Neubau Pferdestall
"Project zum Neubau eines Pferdestalls auf dem Grundstueck der Thierarzneischule", 59,8 cm x 45,4 cm,  Zeichnung, Tusche, laviert auf Karton

Der Plan diente als Anlage zum Kostenvoranschlag für das Gebäude vom 17. August 1873 und wurde von Emmerich eingereicht und vom Baumeister F. Schulze am 12. September des gleichen Jahres gegengezeichnet.
Emmerich war zu dieser Zeit im preußischen Staatsdienst stehend mit der Planung beauftragt. Anhand der weiteren Autographen, den Bemerkungen auf dem Plan und den dazugehörigen Unterschriften kann man das übliche Genehmigungsverfahren für Neubauten, das im jungen Kaiserreich für die Stadt Berlin üblich war, nachvollziehen. Regierungsbaurat Ludwig Giersberg, Mitarbeiter des Ministeriums für Bau-, Militär-, Handel- und Finanzwesen, Abteilung für Bauwesen, bestätigte die Richtigkeit der Planunterlage. Giersberg war von 1866 im Ministerium mit der Erstellung von Gutachten und der Prüfung von Bauvorhaben hervorragender Bedeutung des öffentlichen Bauwesens betraut. Seine Unterschrift unter dem Plan, datiert auf den 27. April 1875, bestätigte die Planung für den Neubau des Pferdestalls für die Tierarzneischule. Der Text „Neuer Stall der Medizin. Klinik“ unter Benutzung eines blauen Stiftes geht vermutlich auf die Planungen für notwendige Neubauten der Tierärztlichen Hochschule zu Beginn des Jahres 1908 zurück. Zu diesem Zeitpunkt wurden in den vorhandenen Gebäuden schon 10.000 Pferde pro Jahr behandelt.

Nach der Fertigstellung der Pferdeklinik 1839 wurde das Gebäude bis zum Umzug der Veterinärmediziner nach Dahlem im Jahre 1991 als Tierstall und Lager genutzt. 2014 fanden umfassende Sanierungs- und Umbauarbeiten statt. Im Erdgeschoss befinden sich heute Labor- und Seminarräume, im Obergeschoss Büros des Instituts für Biologie.

Autorin: Kerstin Hinrichs, Technische Abteilung

Objekt des Monats: Modell des Aletschgletschers

Objekt des Monats 02/2023

Wie ein Schweizer Handwerker das Modell des Aletschgletschers schuf und es an die Universität kam

Ein Relief der Schweizer Alpen, 14 Quadratmeter groß, gehörte einst zu den Hauptattraktionen der Kunstkammer im Berliner Schloss. Aus zehn Teilstücken zusammengefügt, bot es eine Übersicht über Gebirgszüge und Täler in bis dahin nie gesehener Genauigkeit. Ein Teilstück des Modells wurde vor einigen Jahren von einer Doktorandin am Geographischen Institut in einer Datenbank gefunden und erkannt. Es befindet sich mittlerweile im Humboldt Forum und kann dort besichtigt werden.

Am 10. Mai 2017 traf sich eine kleine Gruppe von Wissenschaftler:innen verschiedener Disziplinen in einem Raum im Dachgeschoss des Geografischen Instituts in Adlershof. Es ging ihnen darum zu überprüfen, ob die Kunsthistorikerin Eva Dolezel mit ihrer Vermutung bezüglich eines topografischen Modells richtiglag. Dolezel hatte ihre Dissertation über die historische Berliner Kunstkammer geschrieben und war dabei auf Teile eines herausragenden Objekts gestoßen, was vor über zweihundert Jahren die Berliner:innen ins damalige Schloss zog, wo die Kunstkammer untergebracht war: ein Relief der Schweizer Alpen. Nachweislich war auch Alexander von Humboldt sehr angetan von dem Modell, das aus zehn Teilen bestand und circa 14 Quadratmeter groß war.

Wie das Relief enstand und in die Kunstkammer kam

Geschaffen wurde das Werk von Joachim Eugen Müller (1752–1833), einem Handwerker aus dem Kanton Obwalden, dessen Kenntnisse der Schweizer Alpen herausragend waren und der eine unglaubliche räumliche Vorstellungskraft besaß, um ohne vorhandenes Kartenmaterial ein topografisch fast exaktes Abbild des Gebirges in Miniatur zu formen. Und er schuf nicht nur eins. Viele wollten damals so ein Kunstwerk. Zu den vielen, und wenigen die es sich auch finanziell leisten konnten, gehörte König Friedrich Wilhelm III. von Preußen. So kam ein Relief in zueinander passenden Einzelteilen im Laufe des ersten Viertels des 19. Jahrhunderts nach Berlin und wurde in der dortigen Kunstkammer aufgestellt und war öffentlich zugänglich.

Gefertigt war das Relief aus einer Gipsmischung, eingeschalt in einem Holzrahmen und es war entsprechend der natürlichen örtlichen Gegebenheiten oberflächlich bemalt mit Grün für Wald und Wiesen oder Weiß für Schnee und Eis. Ortschaften waren zu erkennen, Flüsse, Seen und Gletscher. Was der Sicht des Betrachtenden verborgen blieb, waren Metallstifte, die Müller an der Stelle auf der Holzplatte befestigte, an der er später die höheren Gipfel formte. Dieses Detail erlaubt uns heute, dass Modell auch als „echten Müller” zu identifizieren (Abb. 1).

Modell des oberen Rhonetals mit Aletschgletscher.
Expert:innen begutachten am 10. Mai 2017 das Modell des oberen Rhonetals mit Aletschgletscher. Zu sehen ist die Hand des Schweizer Reliefexperten Oscar Wüest, der das Modell verifizierte: Der kleine rote Kegel beinhaltet einen Magneten. Dieser haftet an einem Gipfel der Miniaturalpen. Ein wichtiges Indiz dafür, dass das Objekt tatsächlich ein Teil des historischen Reliefs ist.

Von der Datenbank über die Doktorarbeit ins Humboldt Forum

Mit Auflösung der Kunstkammer verlor sich die Spur des Reliefs. Im Jahr 2010 startete an der HU ein Projekt zur Erfassung materieller Modelle in Universitätssammlungen bundesweit. Dabei wurde auch ein Gebirgsrelief mit der Bezeichnung „Modell des oberen Rhonetals mit Aletschgletscher“ in die öffentlich zugängliche Datenbank aufgenommen. Dort entdeckte es Eva Dolezel und zählte Eins und Eins zusammen. Ihr Fazit: das im Geographischen Institut vorhandene Modell muss mit großer Wahrscheinlichkeit ein Teil des historischen Alpenreliefs der Berliner Kunstkammer sein. Und diese Vermutung bestätigte sich letztendlich.

Die darauffolgende Aufmerksamkeit führte zu einer zweiten Karriere des Reliefs. Es ist heute im Humboldt Labor ausgestellt, allerdings ist es gleichzeitig auch Teil der Ausstellung „Spuren. Geschichte des Ortes“ im Humboldt Forum. Es ist zu den bekannten Öffnungszeiten zu besichtigen.

Das Relief kann als gutes Beispiel für das grenzenlose Potential von vielen bisher nicht entdeckten Objekten in Universitätssammlungen dienen. Und auch die eingangs erwähnte Forschergruppe hat die Hoffnung noch nicht aufgegeben, dass vielleicht noch weitere Teilstücke des einstigen Schweizer Alpenreliefs entdeckt werden.

Relief mit der Nachbildung des Aletschgletschers.
Blick auf das Relief mit der Nachbildung des Aletschgletschers in der Bildmitte und diverser anderer Landschaftsmerkmale, wie beispielsweise Seen, wie sie sich vor zweihundert Jahren darstellten.

Text und Fotos: Oliver Zauzig

Objekt des Monats: Lise-Meitner-Denkmal von Anna Franziska Schwarzbach

Objekt des Monats 01/2023

Lise Meitner Denkmal

Seit 2014 blickt Lise Meitner nun in Richtung Unter den Linden, auf der anderen Seite des Ehrenhofes des Hauptgebäudes sind ihr Theodor Mommsen und Max Planck zugewandt. Das Denkmal für Hermann von Helmholtz vervollständigt die historische Reihe, die sowohl zeitgeschichtlich als auch ästhetisch durch Lise Meitners Repräsentation aufgebrochen und weitergeführt wird – nicht mehr überlebensgroß und in raumgreifender Pose, sondern zurückgenommen und asymmetrisch auf den Sockel gesetzt. Das Bronzedenkmal für Lise Meitner (1878-1968) ist das jüngste im Ehrenhof der Universität und ehrt als bisher einziges eine Wissenschaftlerin. Lise Meitner (1878-1968) vereint viele Besonderheiten in ihrer wissenschaftlichen Biographie: als zweite Frau wurde sie 1906 an der Universität Wien in Physik promoviert, 1913 wurde sie als erste Frau Wissenschaftliches Mitglied der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft, bei Max Planck war sie als erste Frau Assistentin, 1922 habilitierte sie sich als erste Physikerin Preußens an der Berliner Universität und wurde schließlich 1926 als erste außerordentliche Professorin für experimentelle Kernphysik berufen. Dass sie dabei die Arbeit mit den Studierenden sehr ernst nahm, beschreibt sie rückblickend selbst als „eine große menschliche Verantwortung für unsere jungen Mitarbeiter, mit denen wir den ganzen Tag zusammen sind und für deren menschliche Gesamtentwicklung alles, was wir tun und sagen, Einfluß haben kann“ .

Lise Meitner Denkmal

Kernkraft für friedliche Nutzung

Bereits vor ihrer theoretischen Deutung der Kernspaltung 1939 erhielt sie die erste von insgesamt vier Nominierungen für den Nobelpreis 1919 – den Nobelpreis selbst bekam sie allerdings nicht. Diese Ehre wurde Otto Hahn 1945 zuteil, mit dem Lise Meitner Jahrzehnte gemeinsam arbeitete und forschte – und den sie selbstbewusst neckend zuweilen als „Hähnchen“ bezeichnete. Der Fachwelt wurde sie früh bekannt, sie lernte Marie Curie und Albert Einstein persönlich kennen. Durch das 1933 erlassene NS-Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums wurde sie als Jüdin gezwungen, ihre wissenschaftliche Arbeit aufzugeben. 1938 konnte sie nach Schweden emigrieren. Dort hatte sie von 1947 bis 1960 die Forschungsprofessur und Leitung der Kernphysikalischen Abteilung an der Technischen Hochschule Stockholm inne. Nicht dem Bau der Atombombe, sondern der friedlichen Nutzung der Kernenergie verschrieb sie sich fortan. Nach ihrer Emeritierung 1960 übersiedelte sie nach Cambridge, wo sie acht Jahre später, vielfach international geehrt und ausgezeichnet, verstarb.

Denkmal mit Unterschrift, Kernreaktion und Berechnung

Die Berliner Bildhauerin Anna Franziska Schwarzbach konnte sich im europäischen Kunstwettbewerb mit ihrem Entwurf für das Lise Meitner-Denkmal durchsetzen. Der Aufstellungsort besetzt zudem fast die Stelle, an der ehemals das Denkmal für Heinrich von Treitschke stand – dem Historiker, der mit seinem Satz „Die Juden sind unser Unglück“ den Berliner Antisemitismusstreit ausgelöst hat und dessen Denkmal nach seiner Versetzung durch die Nationalsozialisten 1951 endgültig entfernt wurde.
Lise Meitner Denkmal
Anna Franziska Schwarzbach
Schwarzbach kontrastiert das Verhältnis von Figur und Sockel: Auf der Bodenplatte liegt ein Sockel mit verschiedenen Einschnitten und Rissen, die assoziativ mit den Brüchen in Meitners Biographie verbunden sind. Die porträtähnliche Figur selbst steht etwas abseits, zugleich zart und klein und herausragend, sie repräsentiert ebenso Marginalisierung wie Verdienste. Auf der Vorderseite des Sockels ist die Unterschrift Lise Meitners angebracht, auf der glatten linken Seitenfläche eine Zeichnung der Kernreaktion und Fragmente einer Berechnung. Somit sind auch die Attribute auf den Sockel gewandert und nicht der Figur beigegeben. Als dekorativ, weiblichen Stereotypen folgend und ohne Irritationspotentiale als Anstoß zum Nachdenken kritisiert, ist das Denkmal dem stimmigen Erscheinungsbild des Ehrenhofes untergeordnet. Auf dem alltäglichen Gang ins Hauptgebäude der Universität stimmt das Lise Meitner-Denkmal dennoch deutsche Geschichte, Universitäts- und Wissenschaftsgeschichte ebenso an wie Fragen der Gleichberechtigung – ob es ein Anachronismus ist, sollte jede:r selbst entscheiden.

Autorin: Christina Kuhli, Kustodin der HU
Kunstsammlung / Kustodie der Humboldt-Universität

Fotos: Matthias Heyde