Archiv der Kategorie: Objekt des Monats

Objekt des Monats: Der Dichter und der Delphinschädel

Objekt des Monats 07/2023

Der Dichter Adelbert von Chamisso (1781–1838) dürfte den meisten Menschen als Autor der 1814 erschienenen fantastischen Erzählung „Peter Schlemihls wundersame Geschichte“ geläufig sein. Darin verkauft der Protagonist seinen Schatten an den Teufel und verfällt damit der gesellschaftlichen Ächtung. Weit weniger bekannt ist Chamissos Bedeutung als Naturforscher. Er war auf den Gebieten der Ethnologie, der Zoologie und vor allem der Botanik tätig. Von 1815 bis 1818 nahm er an der Weltumsegelung des russischen Forschungsschiffes Rurik teil (Chamisso 2012). Eines der wesentlichen Ergebnisse dieser Fahrt war die Aufdeckung des Generationswechsels der Salpen durch Chamisso. Er konnte nicht nur die abwechselnde Bildung geschlechtlicher und ungeschlechtlicher Generationen dieser planktischen Organismen entschlüsseln, sondern war einer der ersten Forscher überhaupt, die den Zusammenhang von Larven und Generationsfolgen mariner Tiere erkannt haben (Glaubrecht & Dohle 2012).

Bild 1 - Delphinschädel
Der hier von zwei Seiten abgebildete, zersägte Delphinschädel stammt von Chamissos Weltumsegelung an Bord des russischen Forschungsschiffes ‚Rurik‘. (Foto: G. Scholtz)
Der hier von zwei Seiten abgebildete, zersägte Delphinschädel stammt ebenfalls von dieser Fahrt. In seinem Buch „Reise um die Welt“ erwähnt Chamisso Delphine u.a. in den Notizen vom 12. Mai und 4. Juni 1816: „Ein Delphin wurde harpuniert, der erste dessen wir habhaft wurden – er diente uns zu einer willkommenen Speise.“ „…Am 4. ward ein zweiter Delphin von einer anderen Art harpuniert.“ Insgesamt berichtet Chamisso über den Fang von sechs Delphinen, deren Schädel er sämtlich dem „Zootomischen Museum zu Berlin“ überlassen hat. Diese Aussage wird durch das Inventarverzeichnis der zootomischen Sammlung bestätigt, da dort sechs von Chamisso gesammelte Delphinschädel aufgeführt werden. Der Eintrag im Inventarbuch unter der Nummer 3956 für den hier gezeigten Schädel besagt: „Crania Delphini n. sp. … cl. a Chamisso ex itinere trans orbem attulit.“
Bild 2 - Crania Delphini
Crania Delphini n. sp. a 3955 diversa. illi Delphini dubii Cuv. oss. foss. affinea aut vero sumuliter (simuliter?) eodem (Übersetzung: Delphinschädel n. sp. (neue Art) von 3955 verschieden. Die ausgegrabenen Knochen ähneln denen von Delphinus dubius (Cuvier) oder sind sogar völlig gleich.) cl. a Chamisso ex itinere trans orbem mundum attulit. (Übersetzung: Von Chamisso gesammelt, brachte er sie von seiner Reise um die Welt mit.)
Im Jahre 1999 wurden der Schädel und ein Unterkiefer aus der anatomischen Sammlung der Charité der Zoologischen Lehrsammlung der Humboldt Universität (s. Scholtz 2018) überlassen. Die historische Bedeutung dieser Gegenstände blieb über 10 Jahre unbemerkt. Erst als es im Rahmen des DFG-Projektes „Die Aneignung des Weltwissens – Adelbert von Chamissos Weltreise“ eine Anfrage aus Hamburg über den Verbleib eines von Chamisso gesammelten Delphinschädels gab, führten eigene Provenienz-Recherchen zur Identifikation des Objektes. Weitere von Chamisso gesammelte Delphinschädel wurden im Bestand des Museums für Naturkunde identifiziert. Ein Abgleich mit den Notizen in Chamissos Reisetagebüchern (Sproll et al. 2023) bietet nun die Möglichkeit, herauszufinden, um welche der sechs in den Tagebüchern erwähnten Schädel und um welche Delphinarten es sich handelt.
Bild 3 - Adelbert von Chamisso in der Südsee
Aquarelliertes Porträt Chamissos unter Palmen im Pazifik von Ludwig Choris von 1817 (Sammlung Stiftung Stadtmuseum Berlin, Reproduktion: Oliver Ziebe, Berlin, Papier, Blatt: H: 22,80 cm, B: 18,40 cm, Inv.Nr.: TA 00/2026 HZ)

Chamisso war wie zahlreiche seiner wissenschaftlich tätigen Zeitgenossen Mitglied der „Gesellschaft Naturforschender Freunde zu Berlin“. Als ein typisches Kind der Aufklärung wurde diese private Vereinigung am 9. Juli 1773 in der Wohnung des Berliner Arztes Dr. Friedrich Heinrich Wilhelm Martini aus der Taufe gehoben (Böhme-Kassler 2005). Die sieben Gründungsmitglieder zeigten über ihre Professionen als Ärzte, Apotheker, Astronom, königlicher Kriegsrat und königliche Verwalter hinaus großes Interesse an naturwissenschaftlichen Fragen und waren stolze Besitzer von Naturaliensammlungen. Martini, der die Gründung initiierte, war beispielsweise ein engagierter Weichtierkundler und der Apotheker Marcus Élieser Bloch interessierte sich für Fische. Die schließlich zwölf ordentlichen Mitglieder trafen sich regelmäßig in ihren Privatwohnungen, diskutierten über naturkundliche Fragen und stellten ihre neuerworbenen Sammlungsgegenstände vor. Assoziierte und Ehrenmitglieder wurden zusätzlich bestimmt. Nicht zuletzt die Gründung der Berliner Universität im Jahre 1810 ließ die Mitgliederzahlen stark ansteigen. Als Chamisso im Jahre 1819 in die GNF gewählt wurde, gehörte es bereits zum guten Ton, die Mitgliedschaft neben der in anderen nationalen und internationalen Vereinigungen und Akademien aufzuführen. Die explosive Entwicklung naturwissenschaftlicher Forschung im 19. Jahrhundert fand auch ihren Niederschlag in der GNF. Sie wuchs beständig, und vor allem die große Zahl herausragender Forschungspersönlichkeiten, die ihr angehörten, zeigt ihre historische Bedeutung. Dabei wechselte der Schwerpunkt der Interessen immer mehr in Richtung biologischer Fragestellungen. Dementsprechend war die Gesellschaft eng mit dem Museum für Naturkunde verbunden, und mit Beginn des 20. Jahrhunderts fanden dort die Sitzungen statt. Der 2. Weltkrieg führte zu einer Zäsur der Aktivitäten der GNF. Im Jahre 1955 erfolgte die Wiederbelebung an der neugegründeten Freien Universität im Westteil Berlins, wo die Gesellschaft auch heute noch ihren Sitz hat. Die GNF hat sich von Beginn an der Förderung und Verbreitung naturwissenschaftlicher Erkenntnisse verschrieben. Diesem Ideal folgt sie auch heute noch. Sie ist eng mit den großen Berliner Universitäten und dem Museum für Naturkunde verbunden. Sie verleiht jährlich einen Preis für herausragende biologische Bachelor- und Masterarbeiten. Es finden nach wie vor regelgemäße Treffen mit wissenschaftlichen Vorträgen sowie Exkursionen statt. Sie ist die älteste noch existierende, private naturforschende Gesellschaft in Deutschland. Die GNF begeht am 9. Juli 2023 ihr 250-jähriges Bestehen im Hörsaal der Zoologie an der Freien Universität Berlin mit einem Kolloquium. Außerdem beleuchtet eine im Namen des Vorstands herausgegebene Festschrift Aspekte ihrer langen Geschichte (Scholtz et al. 2023).

Von Prof. Dr. Gerhard Scholtz

Links
Zoologische Lehrsammlung der Humboldt-Universität zu Berlin
Salpen (Feuerwalzen), Feuchtpräparat

Literatur
Böhme-Kassler, K. 2005 Gemeinschaftsunternehmen Naturforschung. Modifikation und Tradition in der Gesellschaft Naturforschender Freunde zu Berlin 1773 – 1906. Franz Steiner, Stuttgart.

Chamisso, A. von 2012 Reise um die Welt (Nachdruck). Die Andere Bibliothek, Berlin

Glaubrecht, M. & Dohle, W. 2012 Discovering the alternation generations in salps (Tunicata, Thaliacea): Adelbert von Chamisso’s dissertation “De Salpa” 1819 its material, origin and reception in the early nineteenth century. Zoosystenatics and Evolution 88: 317-363.

Scholtz, G. 2018 Zoologische Lehrsammlung (Zoological Teaching Collection). In: Beck, L.A. (Hrsg.). Zoological Collections of Germany – The animal kingdom in its amazing plenty at museums and universities. Springer, Berlin, pp. 123-134.

Scholtz, G., Sudhaus, W. & Wessel, A. (Hrsg.) 2023 Festschrift zum 250-jährigen Bestehen der Gesellschaft. Sitzungsberichte der Gesellschaft Naturforschender Freunde zu Berlin 57 (NF): 5-320.

Sproll, M., Erhart, W. & Glaubrecht, M. (Hrsg.) 2023 Adelbert von Chamisso: Die Tagebücher der Weltreise 1815-1818, Edition der handschriftlichen Bücher aus dem Nachlass. Brill/V&R Unipress, Göttingen.

Objekt des Monats: Fotografische Reproduktion des Röntgenbildes eines gebundenen Fußes

Objekt des Monats 06/2023

Über einen Zeitraum von tausend Jahren wurden chinesischen Mädchen die Füße gebunden, um sie zu verkürzen. Europäer:innen blickten mit einer Mischung aus Faszination und Befremden auf diese Schönheitspraxis. Im 19. Jahrhundert interessierten sich auch Mediziner für die gebundenen Füße, einer von ihnen war der Berliner Anatom Hans Virchow, dessen podologische Sammlung sich heute im Centrum für Anatomie der HU befindet.

Zu dieser Sammlung gehört auch das hier präsentierte Objekt, ein auf Karton geklebter Abzug eines Röntgenbildes (vgl. zu diesem https://www.sammlungen.hu-berlin.de/objekte/sammlung-am-centrum-fuer-anatomie/8468/), der handschriftlich mit „Fuß einer 32 jähr. chin. Frau“ bezeichnet ist.

Fuß einer 32 jähr. chin. Frau
Fotografische Reproduktion des Röntgenbildes eines gebundenen Fußes, Foto: Felix Sattler

Das Skelett zeigt die charakteristischen Merkmale gebundener Füße: Die kleinen Zehen sind unter die Sohle gekrümmt, der Spann ist nach oben gewölbt. Außer der extremen Verkürzung springt vor allem die genagelte Sohle ins Auge – offensichtlich wurde das Röntgenbild durch den Schuh aufgenommen.

Wie es dazu kam, lässt sich der „Zeitschrift für Ethnologie“ entnehmen: Im März 1905 lud Hans Virchow die Mitglieder der Anthropologischen Gesellschaft ins Foyer des Berliner Zirkus Schumann „zur Besichtigung der gegenwärtig hier weilenden Chinesentruppe“, um sich „von der Kleinheit und Umformung der Chinesinnenfüsse“ zu überzeugen. Über die Identität der „Truppe“ geben Anzeigen und zeitgenössische Quellen Aufschluss. Es handelte sich um den Zauberer Ching Ling Foo und die „berühmten kleinfüssigen Frauen“: seine Ehefrau (die „32 jähr. chin. Frau“), ihre Tochter Chee Toy und Chee Roan, deren Name auf einer Fotografie im Náprstek-Museum Prag, einer anderen Etappe ihrer Europatournee, vermerkt ist (vgl. Heroldová 2008). 

Fotografie im Náprstek-Museum Prag
Ching Ling Foo, seine Frau, Chee Roan und Chee Toy im Náprstek-Museum, 1905, Schwarzweißfotografie auf Karton, © Náprstek-Museum Prag

Schon in der Einladung hatte Virchow Hoffnungen auf eine Inspektion unverhüllter Füße gedämpft, „denn bekanntlich [seien] die chinesischen Frauen in bezug auf ihre Füsse besonders diffizil“. Tatsächlich wurden gebundene Füße in China nie öffentlich nackt gezeigt. Ausländische Fotografen und Ärzte brachen im 19. Jahrhundert vielfach das Blicktabu, indem sie Frauen mit Geld und Geschenken bedrängten. Auch die Artistinnen verweigerten sich dem zudringlichen Blick, ließen sich aber zu Röntgenaufnahmen bewegen – durch den Schuh. Ob dies, wie James Fränkel in der „Zeitschrift für orthopädische Chirurgie“ behauptet, nur gelang, weil die Frauen das 1895 entdeckte Verfahren nicht kannten oder ob er hier den Topos des heimlichen „Röntgenblicks“ bemühte, lässt sich nicht entscheiden. Die Aufnahme jedenfalls zeugt nicht nur von dem übergriffigen medizinischen Blick, sondern auch von dem Widerstand der Frauen.

Für die Anatomen war die Kampagne ein Erfolg, denn sie erlaubte nicht nur die Füße in drei Stadien der Verformung zu sehen, sondern – wider das populäre Vorurteil von der Gehunfähigkeit – auch in Bewegung. Für die Publikation der Untersuchungsergebnisse nahm Virchow mehrfache Überarbeitungen an den Röntgenbildern vor: Er drehte und retuschierte die Aufnahmen, um sie besser lesbar zu machen (vgl. Dünkel 2021). Für ihn war der Ortstermin weder die erste noch die letzte Begegnung mit gebundenen Füßen. Schon 1903 hatte er ein nach dem Ersten Opiumkrieg in die Berliner Sammlung gelangtes Feuchtpräparat untersucht, 1912 mazerierte er die Füße einer an Typhus verstorbenen Frau, die er im Zuge des „Boxerkriegs“, der Niederschlagung der Yihetuan-Bewegung, erhalten hatte. Hatten Mediziner im 19. Jahrhundert neben dem Blicktabu immer wieder auch den mangelnden Zugang zu chinesischen Leichen beklagt, änderte sich die Situation durch die Einrichtung von Missionskrankenhäusern und die Kolonialkriege. Bald besaß fast jede anatomische Sammlung der Imperialmächte Präparate gebundener Füße – einige davon aus geplünderten Gräbern. Auch Virchows Sammlung von Abgüssen, Modellen und Knochen gebundener Füße verdankt sich den kolonialen Bedingungen. Die Ausstellung „unBinding Bodies“ im gegenüberliegenden Tieranatomischen Theater hat es sich zur Aufgabe gemacht, die sensiblen Objekte neu zu kontextualisieren. Im Fokus stehen nicht die Füße, sondern die chinesischen Frauen und ihre Lebenswelten. Die Ausstellung läuft bis zum 31. August.

Jasmin Mersmann und Evke Rulffes

Ausstellung
unBinding Bodies. Lotosschuhe und Korsett im TA T

Katalog
unBinding Bodies – Zur Geschichte des Füßebindens in China
Jasmin Mersmann / Evke Rulffes (Hg.)
transcript Verlag, 2023. Open Access.

Literatur
Vera Dünkel (2021): Beyond Retouching. Hans Virchow‘s Mixed Media and his X-ray Drawings of the Lotus Foot, in: Hybrid Photography, hrsg. von Sara Hillnhuetter, Stefanie Klamm, Friedrich Tietjen, London/New York, S. 79–88.

James Fränkel (1905): Ueber den Fuß der Chinesin, in: Zeitschrift für orthopädische Chirurgie 14, S. 339–356.

Helena Heroldová (2008): Příběh jedněch botiček, in: Cizí, jiné, exotické v české kultuře, hrsg. von Kateřina Bláhová und Václav Petrbok, Prag, S. 126–133.

Jasmin Mersmann (2023): Bis auf die Knochen. Gebundene Füße in anatomischen Sammlungen, in: unBinding Bodies, hrsg. von ders. und Evke Rulffes, Bielefeld, S. 119–129.

Hans Virchow (1903): Das Skelett eines verkrüppelten Chinesinnen-Fußes, in: Zeitschrift für Ethnologie 35:2, S. 266–316 und (1905): Weitere Mitteilungen über die Füße von Chinesinnen, in: ZfE 37:4, S. 546–568.

Objekt des Monats: Goethea strictiflora Hook aus der Sammlung: „Tropische und Subtropische Zierpflanzen“ der Humboldt-Universität zu Berlin

Objekt des Monats 05/2023 

Pflanzenbeschreibung

Die aus Brasilien stammende Goethea gehört zu den Malvengewächsen (Malvaceae). Sie bildet einen schwach verzweigten Strauch, der bis etwa 2 m hoch werden kann. Die über 20 cm langen gestielten ungeteilten Blätter sitzen einzeln am holzigen Spross. Die Anordnung der Blüten stellt eine Besonderheit dar, denn diese sind stammblütig (Kauliflorie) an sehr kurzen generativen Seitensprossen angeordnet. Diese Seitensprossen wachsen nur langsam und bilden besonders in der lichtreichen Jahreszeit immer wieder neue Blüten aus. Die Blüten selbst sind durch rote Kelchblätter als eigentlichen Schauapparat sehr attraktiv. Goethea findet als blühende Topfpflanze in normal geheizten Zimmern Verwendung und kann bei guter Pflege und passenden Standortbedingungen lange ausdauern.

Goethea_strictiflora als Topfblume_grüneberg
Topfblume PD Dr. Heiner Grüneberg

Historie

Nees von Esenbeck beschrieb 1821 die Gattung Goethea erstmalig. Zusammen mit C.F.P. Martius würdigte er damit den großen deutschen Dichter, Naturforscher und Botaniker Johann Wolfgang von Goethe, was aus seinem Brief an Goethe vom 24.06.1820 hervorgeht.

Aktuell unterscheidet man 6 verschiedene Arten (https://www.tropicos.org/), 2023). Die in der Sammlung der HU vorhandene Art wurde 1852 von William Jackson Hooker im Botanical Magazin erstmals wissenschaftlich dargestellt. Das tatsächliche Pflanzenmaterial der Sammlung stammt von 6 Stecklingen ab, die am 20.08.1993 vom Botanischen Garten Leipzig für Forschungszwecke zur Verfügung gestellt wurden. Anschließend begannen am damaligen Fachgebiet Zierpflanzenbau der HU-Berlin erste Untersuchungen zur Eignung dieser Pflanzenart als Neuheit für das Zierpflanzensortiment.

Im Laufe der Zeit konnten mehrere Graduierungsarbeiten von Studierenden sowie Veröffentlichen zu ausgewählten Forschungsgegenständen verfasst werden. Auch auf Pflanzenmessen (z.B. die Internationale Pflanzenmesse in Essen) oder auf Ausstellungen in Frankfurt am Main und Bonn zu Goethe-Festtagen wurden Pflanzen aus der Sammlung mit entsprechenden Beschreibungen präsentiert.

Goethea Ernährungsversuche_grunewald 2018
Ernährungsversuche PD Dr. Heiner Grüneberg

Ausgewählte Forschungsschwerpunkte während der Zeit in der Sammlung

  • Untersuchungen zur vegetativen Vermehrung durch Stecklingsauswahl und deren Auswirkungen auf das nachfolgende Wachstum
  • Forschungen zur Blütenbildung und -entwicklung, Wachstumsrhythmen
  • Untersuchungen zur Verzweigbarkeit, generative Seitentriebe und Spitzenförderung
  • Suche nach Optimalwerten hinsichtlich Licht und Temperatur
  • Post Harvest bei Transport, Lagerung und Haltbarkeit/Wiedererblühen beim Endverbraucher
  • Untersuchungen zu Blattdeformationen
Goethea_Stammblüten_grüneberg
Topfblume PD Dr. Heiner Grüneberg

Pflanzenpflege beim Endverbraucher

Goethea ist eine typische Warmhauspflanze, die am besten in normal geheizten Wohnräumen am hellen Fenster aufgestellt werden soll. Die Pflanzen benötigen gerade in der lichtreichen Jahreszeit ausreichend Wasser und Nährstoffe, wobei im Sommer alle 14 Tage mit einem ausgeglichenem Mehrnährstoffdünger flüssig 0,2%ig gedüngt werden muss. Im Winter genügt die Düngung alle 3 Wochen. Staunässe ist allgemein zu vermeiden, da sonst Blattaufhellungen (Chlorosen) entstehen können. Die Vermehrung ist durch Stecklinge möglich. An Schädlingen können besonders im Winter bei Lufttrockenheit Spinnmilben auftreten. Größere Pflanzen vertragen einen Rückschnitt bis auf ein Drittel der ursprünglichen Größe. Untere Blätter können zum besseren Sichtbarwerden der Blüten entfernt werden.

Von PD Dr. Heiner Grüneberg

Tropische und subtropische Zierpflanzen: https://www.sammlungen.hu-berlin.de/sammlungen/tropische-und-subtropische-zierpflanzen/ 

Objekt des Monats: Eine indische Tablā (dāyāṃ) im Lautarchiv

Objekt des Monats 04/2023 

Das Lautarchiv der Humboldt-Universität zu Berlin bewahrt neben seinen Kernbeständen an Audioaufnahmen von Kriegsgefangenen aus dem Ersten Weltkrieg und der Sammlung deutscher Dialekte aus den 1920er- und 1930er-Jahren noch weitere interessante Teilbestände, die bislang eher im Hintergrund standen und zunächst keinen offensichtlichen Zusammenhang zur Sammlung zu haben scheinen. Zum Beispiel drei indische Trommeln.

Zu diesen Instrumenten existiert keine historische schriftliche Dokumentation. Ein Inventarbucheintrag, aus dem hervorginge, wie, warum und woher sie in die Sammlung des Lautarchivs gelangt sind, liegt nicht vor. Instrumentenkundlich bilden die drei Trommeln kein zusammenhängendes Ensemble. Eine dieser Trommeln – eine indische Tablā (dāyāṃ) – soll hier einmal in den Fokus gestellt werden.

Tabla
Eine indische Tablā (dāyāṃ) im Lautarchiv.
Tabla Draufsicht
Tablā (Draufsicht, ⌀ 20cm); mit der charakteristischen schwarzen Stimmpaste (shāī) in der Mitte. Bei den weißen Flecken handelt es sich um Rückstände unsachgemäß angebrachter Aufkleber, die nicht mehr erhalten sind.

Zum Instrument

Tablā ist die Bezeichnung für ein mit den Händen gespieltes, aus zwei kleinen Kesseltrommeln bestehendes Trommelpaar. Die mit der rechten Hand gespielte, kleinere der beiden Trommeln heißt auch dāyāṃ (wörtlich: rechts), die in einigen Publikationen manchmal als die „eigentliche“ Tablā bezeichnet wird. Die mit der linken Hand gespielte, größere Trommel heißt bāyāṃ (wörtlich: links). Im Lautarchiv befindet sich nur eine dāyāṃ; das Trommelpaar ist unvollständig. Die Tablā ist mehr als ein bloßes „Objekt“; sie fordert Musiker*innen den Respekt ab, als Individuum behandelt zu werden: Instrument und Musiker*innen werden in gewissem Sinne Eins. Die Trommeln stehen auf dem Fußboden und werden im Schneidersitz gespielt. Es darf aber nicht einfach über eine auf dem Fußboden stehende Tablā hinweggeschritten werden; dies gilt als respektlos.

Zur Provenienz: tentativ-spekulative Denkrichtungen

Einige spekulative Denkrichtungen zur Provenienz seien hier aufgrund fehlender Dokumentation skizziert:

  • Nicht zurückgegebene Leihgabe?
    Zunächst einmal drängt sich der spekulative Gedanke auf, ob es sich möglicherweise um eine historische Leihgabe aus dem Musikinstrumenten-Museum SIMPK oder dem Ethnologischen Museum handeln könnte. Dies kann für das MIM aufgrund einer fehlenden Kat.-Nr. des MIM am Instrument ausgeschlossen werden. Ebenso für das Ethnologische Museum.
  • Gastgeschenk?
    Nach Auskunft von Dieter Mehnert, der in den 1990er-Jahren für die Sammlung zuständig war, hieß es seit 1960, die Trommeln seien aus Indien „mitgebracht“ worden. Nähere Umständen seien nicht bekannt gewesen. Ob es sich also um ein im Lautarchiv abgelegtes Gastgeschenk an die Universität handelt, muss offenbleiben.
  • Alter des Instruments?
    Auch wenn das Instrument vermutlich vor 1960 in das Lautarchiv gekommen ist, lässt dies keinen Schluss auf das Alter des Instruments zu. Es könnte wesentlich älter sein. Belastbar wäre das Alter nur durch eine dendrochronologische Untersuchung festzustellen (eine Datierung über eine Baumringuntersuchung der verwendeten Hölzer), nicht durch bloßen Augenschein.

Im ideellen Kontext der Sammlung

Zwar lässt sich kein direkter Zusammenhang der Tablā mit den übrigen Beständen des Lautarchivs rekonstruieren, doch steht die Tablā im Lautarchiv keineswegs in einem kulturell isoliertem Raum. Es bestehen interessante Querbezüge innerhalb der Sammlung, die der Tatsache, dass sich im Lautarchiv eine Tablā befindet, einen ideellen Kontext verleihen. Man denke daran, dass der Nobelpreisträger Rabīndranāth Ṭhākur (রবীন্দ্রনাথ ঠাকুর,1861–1941) im Juni 1921 an der Friedrich-Wilhelms-Universität eine Rede gehalten und ein Lied gesungen hat. Diese Aufnahme befindet sich heute im Lautarchiv (Signatur AUT 48). Ob es sich gar um ein Geschenk von Rabīndranāth Ṭhākur handeln könnte, kann auf der Grundlage des heutigen Wissenstandes noch nicht ermittelt werden. – Ein am 28. September 1926 von Rājamāṇikkam (*um 1902) in der Sprache Tamiḻ (தமிழ்) eingesungenes, mit Tablā begleitetes Lied (Signatur LA 733), gehört leider zu den Verlusten des Lautarchivs.

Symbolkraft einer Tablā im Lautarchiv

Nicht zuletzt steht die Tablā auch symbolisch „inmitten“ der Kriegsgefangenenaufnahmen von indischen Kolonialsoldaten, die das Vereinigte Königreich gegen Deutschland in den Ersten Weltkrieg geschickt hatte. Einer der bekanntesten zyklisch wiederholten rhythmischen Strukturen der nordindischen klassischen Musik ist der sogenannte Tintal (तीन ताल). Seine rhythmisch ausgewogene Gliederung in 16 Trommelsilben (bol), die wiederum in 4×4 Silben unterteilt sind, galt niemand Geringerem als Ravi Shankar (1920–2012) als Symbolkraft für den Frieden. Es sei jedem/jeder selbst überlassen, ob auch die Existenz einer Tablā in der Sammlung des Lautarchivs, „inmitten“ der Audioaufnahmen von Kriegsgefangenen des Ersten Weltkrieges, eine solche Symbolkraft des Friedens annehmen und entfalten kann.

Text und Fotos: Christopher Li, Sammlungsleitung Lautarchiv

Objekt des Monats: Historische Zeichnung eines Pferdestall-Neubaus

Objekt des Monats 03/2023

Das Haus 9 auf dem Campus Nord diente einst als Pferdeklinik der ehemaligen Königlichen Tierarzneischule Preußens, die eine der führenden Ausbildungs- und Forschungsstätten für Veterinärmedizin im jungen Kaiserreich Deutschland war. Der nördliche Teil des Gebäudes wurde 1836 von Ludwig Ferdinand Hesse, der südliche Teil 1874 von Julius Emmerich als Erweiterungsbau gebaut. Eine Zeichnung aus dem Planarchiv der Technischen Abteilung liefert Informationen zur Entstehung des Erweiterungsbaus.
HU, Campus Nord, Haus 9
Campus Nord, Haus 9, Foto: Kerstin Hinrichs, 14. März 2023
Die Zeichnung des Architekten Julius Emmerich zeigt die Vorderfront eines langgezogenen eingeschossigen Stallbaus mit hohem Dach, gerahmt von Treppentürmen und Querriegeln im Maßstab 1:100. Die Mitte betont ein Risalit mit holzverziertem Dachgiebel, links und rechts je drei Fensterachsen. Im Erdgeschoss doppelflügelige Fenster, die mit den Dachfenstern eine Flucht bilden und somit den Kubus vertikal gliedern. Im Giebel des Risaliten, auf der Höhe des Dachbodens, eine doppelflügelige Lamellentür, über die Stroh und Heu im Dachboden eingelagert werden konnten. Die Türme dienten als Zugang zu den Arbeits- und Wohnräumen der Tierpfleger in den Querriegeln. Die Form des Daches, die profilierten Balkenköpfe und Konsolen, die Betonung der Gesimse durch Formsteine sowie die alternierenden farbigen Ziegelbänder sind sehr detailliert in der Zeichnung dargestellt. Emmerichs Entwurf lehnt an Entwürfe Schinkels für preußischen Landhausbauten an. Bäume und Büsche rahmen das geplante Gebäude und verweisen auf den Parkcharakter des Grundstücks.
Projekt Neubau Pferdestall
"Project zum Neubau eines Pferdestalls auf dem Grundstueck der Thierarzneischule", 59,8 cm x 45,4 cm,  Zeichnung, Tusche, laviert auf Karton

Der Plan diente als Anlage zum Kostenvoranschlag für das Gebäude vom 17. August 1873 und wurde von Emmerich eingereicht und vom Baumeister F. Schulze am 12. September des gleichen Jahres gegengezeichnet.
Emmerich war zu dieser Zeit im preußischen Staatsdienst stehend mit der Planung beauftragt. Anhand der weiteren Autographen, den Bemerkungen auf dem Plan und den dazugehörigen Unterschriften kann man das übliche Genehmigungsverfahren für Neubauten, das im jungen Kaiserreich für die Stadt Berlin üblich war, nachvollziehen. Regierungsbaurat Ludwig Giersberg, Mitarbeiter des Ministeriums für Bau-, Militär-, Handel- und Finanzwesen, Abteilung für Bauwesen, bestätigte die Richtigkeit der Planunterlage. Giersberg war von 1866 im Ministerium mit der Erstellung von Gutachten und der Prüfung von Bauvorhaben hervorragender Bedeutung des öffentlichen Bauwesens betraut. Seine Unterschrift unter dem Plan, datiert auf den 27. April 1875, bestätigte die Planung für den Neubau des Pferdestalls für die Tierarzneischule. Der Text „Neuer Stall der Medizin. Klinik“ unter Benutzung eines blauen Stiftes geht vermutlich auf die Planungen für notwendige Neubauten der Tierärztlichen Hochschule zu Beginn des Jahres 1908 zurück. Zu diesem Zeitpunkt wurden in den vorhandenen Gebäuden schon 10.000 Pferde pro Jahr behandelt.

Nach der Fertigstellung der Pferdeklinik 1839 wurde das Gebäude bis zum Umzug der Veterinärmediziner nach Dahlem im Jahre 1991 als Tierstall und Lager genutzt. 2014 fanden umfassende Sanierungs- und Umbauarbeiten statt. Im Erdgeschoss befinden sich heute Labor- und Seminarräume, im Obergeschoss Büros des Instituts für Biologie.

Autorin: Kerstin Hinrichs, Technische Abteilung

Objekt des Monats: Modell des Aletschgletschers

Wie ein Schweizer Handwerker das Modell des Aletschgletschers schuf und es an die Universität kam

Ein Relief der Schweizer Alpen, 14 Quadratmeter groß, gehörte einst zu den Hauptattraktionen der Kunstkammer im Berliner Schloss. Aus zehn Teilstücken zusammengefügt, bot es eine Übersicht über Gebirgszüge und Täler in bis dahin nie gesehener Genauigkeit. Ein Teilstück des Modells wurde vor einigen Jahren von einer Doktorandin am Geographischen Institut in einer Datenbank gefunden und erkannt. Es befindet sich mittlerweile im Humboldt Forum und kann dort besichtigt werden.

Am 10. Mai 2017 traf sich eine kleine Gruppe von Wissenschaftler:innen verschiedener Disziplinen in einem Raum im Dachgeschoss des Geografischen Instituts in Adlershof. Es ging ihnen darum zu überprüfen, ob die Kunsthistorikerin Eva Dolezel mit ihrer Vermutung bezüglich eines topografischen Modells richtiglag. Dolezel hatte ihre Dissertation über die historische Berliner Kunstkammer geschrieben und war dabei auf Teile eines herausragenden Objekts gestoßen, was vor über zweihundert Jahren die Berliner:innen ins damalige Schloss zog, wo die Kunstkammer untergebracht war: ein Relief der Schweizer Alpen. Nachweislich war auch Alexander von Humboldt sehr angetan von dem Modell, das aus zehn Teilen bestand und circa 14 Quadratmeter groß war.

Wie das Relief enstand und in die Kunstkammer kam

Geschaffen wurde das Werk von Joachim Eugen Müller (1752–1833), einem Handwerker aus dem Kanton Obwalden, dessen Kenntnisse der Schweizer Alpen herausragend waren und der eine unglaubliche räumliche Vorstellungskraft besaß, um ohne vorhandenes Kartenmaterial ein topografisch fast exaktes Abbild des Gebirges in Miniatur zu formen. Und er schuf nicht nur eins. Viele wollten damals so ein Kunstwerk. Zu den vielen, und wenigen die es sich auch finanziell leisten konnten, gehörte König Friedrich Wilhelm III. von Preußen. So kam ein Relief in zueinander passenden Einzelteilen im Laufe des ersten Viertels des 19. Jahrhunderts nach Berlin und wurde in der dortigen Kunstkammer aufgestellt und war öffentlich zugänglich.

Gefertigt war das Relief aus einer Gipsmischung, eingeschalt in einem Holzrahmen und es war entsprechend der natürlichen örtlichen Gegebenheiten oberflächlich bemalt mit Grün für Wald und Wiesen oder Weiß für Schnee und Eis. Ortschaften waren zu erkennen, Flüsse, Seen und Gletscher. Was der Sicht des Betrachtenden verborgen blieb, waren Metallstifte, die Müller an der Stelle auf der Holzplatte befestigte, an der er später die höheren Gipfel formte. Dieses Detail erlaubt uns heute, dass Modell auch als „echten Müller” zu identifizieren (Abb. 1).

Modell des oberen Rhonetals mit Aletschgletscher.
Expert:innen begutachten am 10. Mai 2017 das Modell des oberen Rhonetals mit Aletschgletscher. Zu sehen ist die Hand des Schweizer Reliefexperten Oscar Wüest, der das Modell verifizierte: Der kleine rote Kegel beinhaltet einen Magneten. Dieser haftet an einem Gipfel der Miniaturalpen. Ein wichtiges Indiz dafür, dass das Objekt tatsächlich ein Teil des historischen Reliefs ist.

Von der Datenbank über die Doktorarbeit ins Humboldt Forum

Mit Auflösung der Kunstkammer verlor sich die Spur des Reliefs. Im Jahr 2010 startete an der HU ein Projekt zur Erfassung materieller Modelle in Universitätssammlungen bundesweit. Dabei wurde auch ein Gebirgsrelief mit der Bezeichnung „Modell des oberen Rhonetals mit Aletschgletscher“ in die öffentlich zugängliche Datenbank aufgenommen. Dort entdeckte es Eva Dolezel und zählte Eins und Eins zusammen. Ihr Fazit: das im Geographischen Institut vorhandene Modell muss mit großer Wahrscheinlichkeit ein Teil des historischen Alpenreliefs der Berliner Kunstkammer sein. Und diese Vermutung bestätigte sich letztendlich.

Die darauffolgende Aufmerksamkeit führte zu einer zweiten Karriere des Reliefs. Es ist heute im Humboldt Labor ausgestellt, allerdings ist es gleichzeitig auch Teil der Ausstellung „Spuren. Geschichte des Ortes“ im Humboldt Forum. Es ist zu den bekannten Öffnungszeiten zu besichtigen.

Das Relief kann als gutes Beispiel für das grenzenlose Potential von vielen bisher nicht entdeckten Objekten in Universitätssammlungen dienen. Und auch die eingangs erwähnte Forschergruppe hat die Hoffnung noch nicht aufgegeben, dass vielleicht noch weitere Teilstücke des einstigen Schweizer Alpenreliefs entdeckt werden.

Relief mit der Nachbildung des Aletschgletschers.
Blick auf das Relief mit der Nachbildung des Aletschgletschers in der Bildmitte und diverser anderer Landschaftsmerkmale, wie beispielsweise Seen, wie sie sich vor zweihundert Jahren darstellten.

Text und Fotos: Oliver Zauzig

Objekt des Monats: Lise-Meitner-Denkmal von Anna Franziska Schwarzbach

Objekt des Monats 01/2023

Lise Meitner Denkmal

Seit 2014 blickt Lise Meitner nun in Richtung Unter den Linden, auf der anderen Seite des Ehrenhofes des Hauptgebäudes sind ihr Theodor Mommsen und Max Planck zugewandt. Das Denkmal für Hermann von Helmholtz vervollständigt die historische Reihe, die sowohl zeitgeschichtlich als auch ästhetisch durch Lise Meitners Repräsentation aufgebrochen und weitergeführt wird – nicht mehr überlebensgroß und in raumgreifender Pose, sondern zurückgenommen und asymmetrisch auf den Sockel gesetzt. Das Bronzedenkmal für Lise Meitner (1878-1968) ist das jüngste im Ehrenhof der Universität und ehrt als bisher einziges eine Wissenschaftlerin. Lise Meitner (1878-1968) vereint viele Besonderheiten in ihrer wissenschaftlichen Biographie: als zweite Frau wurde sie 1906 an der Universität Wien in Physik promoviert, 1913 wurde sie als erste Frau Wissenschaftliches Mitglied der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft, bei Max Planck war sie als erste Frau Assistentin, 1922 habilitierte sie sich als erste Physikerin Preußens an der Berliner Universität und wurde schließlich 1926 als erste außerordentliche Professorin für experimentelle Kernphysik berufen. Dass sie dabei die Arbeit mit den Studierenden sehr ernst nahm, beschreibt sie rückblickend selbst als „eine große menschliche Verantwortung für unsere jungen Mitarbeiter, mit denen wir den ganzen Tag zusammen sind und für deren menschliche Gesamtentwicklung alles, was wir tun und sagen, Einfluß haben kann“ .

Lise Meitner Denkmal

Kernkraft für friedliche Nutzung

Bereits vor ihrer theoretischen Deutung der Kernspaltung 1939 erhielt sie die erste von insgesamt vier Nominierungen für den Nobelpreis 1919 – den Nobelpreis selbst bekam sie allerdings nicht. Diese Ehre wurde Otto Hahn 1945 zuteil, mit dem Lise Meitner Jahrzehnte gemeinsam arbeitete und forschte – und den sie selbstbewusst neckend zuweilen als „Hähnchen“ bezeichnete. Der Fachwelt wurde sie früh bekannt, sie lernte Marie Curie und Albert Einstein persönlich kennen. Durch das 1933 erlassene NS-Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums wurde sie als Jüdin gezwungen, ihre wissenschaftliche Arbeit aufzugeben. 1938 konnte sie nach Schweden emigrieren. Dort hatte sie von 1947 bis 1960 die Forschungsprofessur und Leitung der Kernphysikalischen Abteilung an der Technischen Hochschule Stockholm inne. Nicht dem Bau der Atombombe, sondern der friedlichen Nutzung der Kernenergie verschrieb sie sich fortan. Nach ihrer Emeritierung 1960 übersiedelte sie nach Cambridge, wo sie acht Jahre später, vielfach international geehrt und ausgezeichnet, verstarb.

Denkmal mit Unterschrift, Kernreaktion und Berechnung

Die Berliner Bildhauerin Anna Franziska Schwarzbach konnte sich im europäischen Kunstwettbewerb mit ihrem Entwurf für das Lise Meitner-Denkmal durchsetzen. Der Aufstellungsort besetzt zudem fast die Stelle, an der ehemals das Denkmal für Heinrich von Treitschke stand – dem Historiker, der mit seinem Satz „Die Juden sind unser Unglück“ den Berliner Antisemitismusstreit ausgelöst hat und dessen Denkmal nach seiner Versetzung durch die Nationalsozialisten 1951 endgültig entfernt wurde.
Lise Meitner Denkmal
Anna Franziska Schwarzbach
Schwarzbach kontrastiert das Verhältnis von Figur und Sockel: Auf der Bodenplatte liegt ein Sockel mit verschiedenen Einschnitten und Rissen, die assoziativ mit den Brüchen in Meitners Biographie verbunden sind. Die porträtähnliche Figur selbst steht etwas abseits, zugleich zart und klein und herausragend, sie repräsentiert ebenso Marginalisierung wie Verdienste. Auf der Vorderseite des Sockels ist die Unterschrift Lise Meitners angebracht, auf der glatten linken Seitenfläche eine Zeichnung der Kernreaktion und Fragmente einer Berechnung. Somit sind auch die Attribute auf den Sockel gewandert und nicht der Figur beigegeben. Als dekorativ, weiblichen Stereotypen folgend und ohne Irritationspotentiale als Anstoß zum Nachdenken kritisiert, ist das Denkmal dem stimmigen Erscheinungsbild des Ehrenhofes untergeordnet. Auf dem alltäglichen Gang ins Hauptgebäude der Universität stimmt das Lise Meitner-Denkmal dennoch deutsche Geschichte, Universitäts- und Wissenschaftsgeschichte ebenso an wie Fragen der Gleichberechtigung – ob es ein Anachronismus ist, sollte jede:r selbst entscheiden.

Autorin: Christina Kuhli, Kustodin der HU
Kunstsammlung / Kustodie der Humboldt-Universität

Fotos: Matthias Heyde