Archiv der Kategorie: Aktuelles

Publikation „Das resonante Museum“

Das internationale Kulturprojekt Mindscapes endet mit der Publikation ‘Das resonante Museum’, einem Booklaunch im Gropius Bau und dem Launch seines Online-Archivs. 
 
Nach zwei Jahren Projektlaufzeit endet das internationale Kulturprojekt Mindscapes. Finanziert vom britischen Wellcome Trust beschäftigte sich das Projekt mit der Frage, wie Kultur zu einer Veränderung beitrage kann, wie mentale Gesundheit verstanden und definiert wird, wie damit umgegangen wird, und über sie gesprochen wird. In enger Kooperation mit dem Gropius Bau wurde das Projekt am HZK kuratorisch und wissenschaftlich von Dr. Margareta von Oswald betreut. 
 
Abschließend erscheint die Publikation ‘Das resonante Museum. Berliner Gespräche über mentale Gesundheit’ im Verlag der Buchhandlung Franz und Walther König auf deutsch und englisch
 
Die Grundlage für dieses Buch ist das Gespräch über mentale Gesundheit. Die Gespräche sind eine Momentaufnahme aus den Jahren 2021 und 2022 in Berlin. Personen aus Wissenschaft, Kultur, Politik und aktivistischen Kontexten äußern sich und zeigen auf: Wenn über mentale Gesundheit gesprochen wird, wird über Gesellschaft gesprochen. Diese Gespräche entstanden im Rahmen einer Kooperation zwischen dem Gropius Bau und Mindscapes, dem internationalen Kulturprogramm zum Thema mentale Gesundheit von Wellcome. Einleitende Texte diskutieren Öffnungsprozesse im Museum, und stellen die Frage, wie Museen zu gesellschaftswirksamen Orten werden können.
 
Wir feiern die Veröffentlichung des Buches am 30. September im Gropius Bau
 
Außerdem haben wir in den letzten Monaten intensiv am internationalen Archiv des Projekts gearbeitet. Dieses ist nun online verfügbar auf www.mindscapes.community

Objekt des Monats: Ein starkes Stück: Annemirl Bauer, Männliche Herrlichkeit Gottes, 1988

Objekt des Monats 09/2023

Anklagend, schockierend, melancholisch – das großformatige Bild von Annemirl Bauer ist ausdrucksstark. Von den Augen einer mittig platzierten Frauenfigur, in Häftlingskleidung auf einer Kiste kauernd, gehen Strahlen zu beiden Seiten des Bildes aus. Links steht eine Reihe nackter Frauen mit hochhackigen Schuhen in Reih und Glied, die Vorderste streckt die bewaffnete Hand aus. Hinter ihr sind weitere Figuren, z. T. mit übergroßem Phallus. Die Pistole weist auf die rechte Bildseite mit einer aus Krücken gekreuzigten Frauenfigur, aus deren Schoß Blut strömt. Eine männliche Armee, in Köpfen angedeutet am unteren rechten Bildrand ist mit der Anrufung der Dreifaltigkeit beschrieben. Die düsteren, gewaltsamen und sexualisierten Bildszenen werden nur ganz am rechten Bildrand konterkariert durch eine im goldenen Lichtschein stehenden Mutter mit Kind, allen Anfeindungen zum Trotz aufrecht und ruhig dastehend.

Der Titel „Männliche Herrlichkeit Gottes“, im Bild präsent durch Schriftzeichen am Himmel bzw. auf einer Rakete, verweist ebenso auf die (von Männern verübten) Schrecken des Krieges und der Gewalt wie auf die Rollen der Frau – als Opfer, als Täterin, als Mutter

A.Bauer Männliche Herrlichkeit Gottes
Annemirl Bauer, Männliche Herrlichkeit Gottes, Öl/ Teppich, 208 x 246 cm, 1988

Seit 2018 hängt das Bild als eines der wenigen in der Öffentlichkeit noch präsenten Werke von Annemirl Bauer in der Humboldt-Universität. Die streitbare Malerin, selbst von der Stasi überwacht, aus dem Künstlerverband der DDR ausgeschlossen und mit nachfolgendem Arbeitsverbot belegt, setzte sich immer wieder mit feministischen Themen auseinander. Die „Männliche Herrlichkeit Gottes“ lässt sich darüber hinaus ganz konkret mit dem Wehrpflichtgesetz für Frauen in der DDR, den „Frauen für den Frieden“, aber auch mit der in der Bundesrepublik inhaftierten Feministin Ingrid Strobl in Verbindung bringen.

1982 wurde ein neues Wehrdienstgesetz erlassen, das auch Frauen im Mobilmachungsfall zur Landesverteidigung herangezogen hätte. Dagegen haben 150 Frauen in einem gemeinsamen Plädoyer an Erich Honecker protestiert: „Wir Frauen wollen den Kreis der Gewalt durchbrechen und allen Formen der Gewalt als Mittel zur Konfliktlösung unsere Teilnahme entziehen. […] Wir Frauen verstehen die Bereitschaft zum Wehrdienst als eine Drohgebärde, die dem Streben nach moralischer und militärischer Abrüstung entgegensteht und die Stimme der menschlichen Vernunft im militärischen Gehorsam untergehen läßt.“ (Eingabe zum Wehrdienstgesetz an den Staatsratsvorsitzenden Erich Honecker, 12. Oktober 1982)
Dieser pazifistischen Kritik folgte eine Welle von Vernehmungen durch die Staatssicherheit, Einschüchterungen und Verhaftungen – bspw. auch der politisch aktiven Malerin und Hauptunterzeichnerin Bärbel Bohley, die ebenso wie Annemirl Bauer im Verband Bildender Künstler der DDR organisiert war, aus dessen Bezirksvorstand sie 1983 ausgeschlossen wurde.

Ingrid Strobl wiederum, eine österreichische Journalistin, die von 1979 bis 1986 Redakteurin der Zeitschrift Emma in Köln war, wurde 1987 als Terrorismusverdächtige in Untersuchungs- bzw. Isolationshaft genommen. Sie war dabei gefilmt worden, wie sie einen Wecker kaufte, der vom BKA präpariert worden war und 1986 beim Anschlag auf das Verwaltungsgebäude der Lufthansa in den Überresten einer Bombe identifiziert werden konnte. Der Anschlag gegen die Lufthansa, verübt von der Organisation „Revolutionäre Zellen“, hatte ebenfalls einen feministischen Hintergrund und zielte auf den Sextourismus („staatlichen Rassismus, Sexismus und das Patriachat“, wie die Revolutionären Zellen selbst angaben, vgl. Ingrid Strobl: Vermessene Zeit. Der Wecker, der Knast und ich, Hamburg 2020). Strobl erhielt nach ihrer Verhaftung öffentliche Solidarität.

Auch ohne die Kenntnis dieser historischen Hintergründe wirkt das Werk von Annemirl Bauer durch seine offensive Bildsprache, die auch mit religiösen Motivzitaten spielt.
Trotz aller Kritik – insbesondere auch gegen die Ablehnung von Annemirl Bauer immer wieder geforderten Reisemöglichkeiten „mit Wiederkehr“ – war die Künstlerin keine Dissidentin und wollte die DDR nicht verlassen. Die gesellschaftlichen und politischen Strukturen verändern, das war zeitlebens ihr Kampf, den sie kurz vor dem Mauerfall im Sommer 1989 durch ihren frühen Tod verlor.
Seit 2010 erinnert ein nach ihr benannter Platz in Friedrichshain am Bahnhof Ostkreuz an die streitbare Künstlerin.

Autorin: Dr. Christina Kuhli

Drei historische Schellackplatten finden ihren Weg zurück aus der Nasjionalbiblioteket Oslo ins Berliner Lautarchiv

Besonders bedeutsam: Die drei Platten galten bis dato in Berlin als Verlust; es existierten bislang auch keine Digitalisate. In Oslo wurden Digitalisate angefertigt und ebenfalls dem Lautarchiv übermittelt. Die Schellackplatten waren von dem Begründer des Lautarchivs Wilhelm Doegen (1877–1967) oder von dem Göttinger Iranist Friedrich Carl Andreas (1846–1930) an den norwegischen Indo-Iranist Georg Morgenstierne (1892–1978) verliehen worden. Über den Nachlass Morgenstierne gelangten sie in die norwegische Nasjionalbiblioteket.

Auf den Platten befinden sich die Stimmen von Ábdil Kadír Khan, Beidullah Khan und Shahdad Khan (Afghanisch und Belutschi).

Die Platten wurden mit offizieller Genehmigung des norwegischen Ministeriums und einer schriftlichen Erklärung der Nasjionalbibliotekek nach Berlin gebracht.

Das Lautarchiv bedankt sich insbesondere bei Johanne Ostad, Bente Granrud und Włodek Witek von der Osloer Nasjionalbiblioteket.

Objekt des Monats: Diagramm des Niederschlagsverlaufs in Berlin-Dahlem im Jahr 2022

Objekt des Monats 08/2023

Für das Objekt des Monats August haben wir uns für das Diagramm des Niederschlagsverlaufs in Berlin-Dahlem für das Jahr 2022 (Abb. 4) entschieden, was stellvertretend für die tägliche Wetterbeobachtung steht und darüber hinaus die Vielfalt der Forschung an der HU widerspiegelt sowie den Anschluss an aktuelle gesellschaftliche Debatten wie dem Klimawandel und Fragen der zukünftigen Ernährungssicherheit erlaubt. Es geht also um das einzige Thema, wo sich sicher jede und jeder stets eine Meinung bilden möchte: das Wetter.

Die Begriffe Wetter und Klima sollten auseinandergehalten werden. Wetter beschreibt den messbaren augenblicklichen Zustand der Atmosphäre, wogegen sich Klima eher als typischen wiederkehrenden jährlichen Ablauf des Wetters definiert, meist basierend auf 30jährigen Mittelwerten.

Mit Wetter wird meist Sonnenschein, Wind, Regen oder Temperatur in Verbindung gebracht. Das sind Größen, die messbar bzw. zählbar sind und insbesondere für die Landwirtschaft und damit für die Ernährung eine zentrale Rolle spielen. Und um das Messen bzw. Zählen auch professionell zu betreiben, gibt es feste Wetterstationen, die sich auch an der Humboldt-Universität befinden.

Die agrarklimatologische Wetterstation am landwirtschaftlichen Versuchsstandort in Berlin-Dahlem wurde 1931 eingerichtet. Die seitdem gemessenen Wetterdaten dienen zum einen für die Auswertung der landwirtschaftlichen Dauerversuche am Standort (Untersuchung von Zusammenhängen zwischen Witterungsverlauf und Wachstum, Entwicklung sowie Ertragsbildung landwirtschaftlicher Nutzpflanzen) und zum anderen für die Auswertung der unterschiedlichsten Feldversuche, die kurzfristiger angelegt sind. Die Daten stehen allen Studierenden sowie Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern für die Auswertung ihrer Freilandversuche zur Verfügung.

Darüber hinaus geben die langjährigen Wetteraufzeichnungen einen Einblick in die klimatischen Veränderungen Berlins.

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Abbildung 1: Wetterstation auf dem Gelände der Dauerfeldversuche des Departments für Nutzpflanzen- und Tierwissenschaften des Thaer-Instituts für Agrar- und Gartenbauwissenschaften in Dahlem. (Foto: O. Zauzig 2023)
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Abbildung 2: Verlauf des Jahresmittels der Lufttemperatur (Ta) seit Beginn der Wetteraufzeichnung in Dahlem.
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Abbildung 3: Jahresniederschlagshöhe (Pa) im gleichen Zeitraum.
Die zwei Grafiken zeigen den Verlauf des Jahresmittels der Lufttemperatur (Ta) und der Jahresniederschlagshöhe (Pa) von 1931 bis 2022. Die Lufttemperatur hat in Berlin-Dahlem zwischen 1931 und 2022 signifikant um 1.8 °C zugenommen (1.78 K in 92 Jahren). Die Jahresniederschlagshöhe zeigt keinen signifikanten Trend, wobei im Jahr 2022 die bisher geringste jährliche Niederschlagshöhe von nur 338 mm (entspricht 338 Liter pro Quadratmeter) über das ganze Jahr verteilt gemessen wurde.
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Abbildung 4: Verlauf der Niederschlagshöhe 2022, gemessen am Standort Dahlem.

Die Abbildung 4 zeigt, dass lediglich in 3 Monaten des Jahres (Februar, April, Dezember) die Niederschlagshöhe über dem langjährigen Mittel lag. Dies führte zu einem Jahresniederschlagsdefizit von 40 Prozent und somit zur geringsten Jahressumme von 337,8 Liter pro Quadratmeter seit Beobachtungsbeginn, im Jahr 1931. Mit nur 0,6 l/m² Niederschlag stellte der März 2022 ebenfalls einen Rekord auf, der durch die höchste bisher gemessene Sonnenscheindauer von 245,3 Stunden bedingt war.

Damit wurden im Jahr 2022 gleich vier Rekorde aufgestellt: höchste Sonnenscheindauer und geringste Niederschlagshöhe im März, geringste Jahresniederschlagshöhe seit 1931, höchste Zahl an „Wüstentagen“.

Das Wetter zu beobachten, bleibt weiterhin unsere Aufgabe.

Autoren: Prof. Dr. Frank-M. Chmielewski und Dr. Oliver Zauzig

Bündelung der Kräfte und Strategien: Das Hermann von Helmholtz-Zentrum für Kulturtechnik (HZK) widmet sich dem Mehrjahresthema „Die Elemente“

Als interdisziplinäres Zentralinstitut (ZI) der Humboldt-Universität hat das HZK die Aufgabe, neben Forschung und Lehre die Third Mission als neue Kernkompetenz innerhalb der Universität zu etablieren. Hierzu zählt das transdisziplinär orientierte Kompetenzfeld „Wissensaustausch mit der Gesellschaft“, das die Humboldt-Universität im Ganzen stärker an einem bi-direktionalen Vermittlungsverständnis orientiert. Wissenschaftliche Ergebnisse sollen nicht nur in die Gesellschaft hineingetragen, sondern in konkreten Formen der Begegnung ein direkter Austausch von divers verstandenem Wissen erprobt werden.

Um die seit der Jahrtausendwende gewonnenen Forschungs-, Lehr- und Anwendungsergebnisse des HZK zu bündeln und für die Mitglieder der Gesamtuniversität zur zentralen Anlaufstelle im Bereich Wissensaustausch mit der Gesellschaft zu werden, widmet sich das ZI ab dem Sommer 2023 dem Mehrjahresthema „Die Elemente“ – aus Perspektive der Naturwissenschaften ein unscharfer, aus Perspektive der Geisteswissenschaften ein historischer Begriff.

Elemente wie Erde, Feuer, Wasser oder Luft spielen in den Alltagsvorstellungen eine selbstverständliche Rolle – und stellen darin nicht zuletzt eine Brücke dar zwischen den verschiedensten Fachdisziplinen und Wissenstraditionen. So lässt sich „Erde“ ebenso aus geopolitischer Perspektive, als biologischer Nährboden („Muttererde“) oder auch geschichtlich versehrter Lebensraum („verbrannte“ Erde) fassen, wie auch hinsichtlich des technisch-innovativen Potenzials von „Seltenen Erden“ oder der Ertragssteigerung durch Düngungen und tiefgehende Eingriffe in die Landschaftsgestalt, sei es durch Bauten, Erderuptionen oder Erosionen.

Verschiedene Forschungs- und Vermittlungsformate werden die damit verbundenen inter- und transdisziplinären Kollaborationen erproben. Das im Humboldt Forum angesiedelte Humboldt Labor, Teil des HZK und eine der zentralen Bühnen der Humboldt-Universität, wird mit einem Teaser zur Gesamtreihe „Die Elemente“ starten, bevor es sich dann in den darauffolgenden Jahren den einzelnen Elementen widmet und laufend Ergebnisse der Forschungen präsentiert.

Kontakt:
Dr. Elisabeth Lack
Geschäftsführung HZK

Elemente HZK
Die Elemente – HZK (© DaTy)

Kooperation mit Michel Abdollahi und seinem Team

Zwischen HZK-Zentrumsrat und „Centralkomitee“: Daniel Tyradellis beim Arbeitstreffen im Hamburger Centralkomitee mit Michel Abdollahi und seinem Team.
Das Centralkomitee in Hamburg ist eine experimentelle Bühne zwischen Stand-Up und Kabarett, die sich zukünftig auch im Grenzbereich von Wissenschaftsproduktion und gesellschaftlichem Dialog erproben möchte: Third Mission at its best. Das Helmholtz-Zentrum ist als bevorzugter Tanzpartner gerne dabei!

Centralkomitee & Daniel Tyradellis (© DaTy)
Centralkomitee & Daniel Tyradellis (© DaTy)

Objekt des Monats: Der Dichter und der Delphinschädel

Objekt des Monats 07/2023

Der Dichter Adelbert von Chamisso (1781–1838) dürfte den meisten Menschen als Autor der 1814 erschienenen fantastischen Erzählung „Peter Schlemihls wundersame Geschichte“ geläufig sein. Darin verkauft der Protagonist seinen Schatten an den Teufel und verfällt damit der gesellschaftlichen Ächtung. Weit weniger bekannt ist Chamissos Bedeutung als Naturforscher. Er war auf den Gebieten der Ethnologie, der Zoologie und vor allem der Botanik tätig. Von 1815 bis 1818 nahm er an der Weltumsegelung des russischen Forschungsschiffes Rurik teil (Chamisso 2012). Eines der wesentlichen Ergebnisse dieser Fahrt war die Aufdeckung des Generationswechsels der Salpen durch Chamisso. Er konnte nicht nur die abwechselnde Bildung geschlechtlicher und ungeschlechtlicher Generationen dieser planktischen Organismen entschlüsseln, sondern war einer der ersten Forscher überhaupt, die den Zusammenhang von Larven und Generationsfolgen mariner Tiere erkannt haben (Glaubrecht & Dohle 2012).

Bild 1 - Delphinschädel
Der hier von zwei Seiten abgebildete, zersägte Delphinschädel stammt von Chamissos Weltumsegelung an Bord des russischen Forschungsschiffes ‚Rurik‘. (Foto: G. Scholtz)
Der hier von zwei Seiten abgebildete, zersägte Delphinschädel stammt ebenfalls von dieser Fahrt. In seinem Buch „Reise um die Welt“ erwähnt Chamisso Delphine u.a. in den Notizen vom 12. Mai und 4. Juni 1816: „Ein Delphin wurde harpuniert, der erste dessen wir habhaft wurden – er diente uns zu einer willkommenen Speise.“ „…Am 4. ward ein zweiter Delphin von einer anderen Art harpuniert.“ Insgesamt berichtet Chamisso über den Fang von sechs Delphinen, deren Schädel er sämtlich dem „Zootomischen Museum zu Berlin“ überlassen hat. Diese Aussage wird durch das Inventarverzeichnis der zootomischen Sammlung bestätigt, da dort sechs von Chamisso gesammelte Delphinschädel aufgeführt werden. Der Eintrag im Inventarbuch unter der Nummer 3956 für den hier gezeigten Schädel besagt: „Crania Delphini n. sp. … cl. a Chamisso ex itinere trans orbem attulit.“
Bild 2 - Crania Delphini
Crania Delphini n. sp. a 3955 diversa. illi Delphini dubii Cuv. oss. foss. affinea aut vero sumuliter (simuliter?) eodem (Übersetzung: Delphinschädel n. sp. (neue Art) von 3955 verschieden. Die ausgegrabenen Knochen ähneln denen von Delphinus dubius (Cuvier) oder sind sogar völlig gleich.) cl. a Chamisso ex itinere trans orbem mundum attulit. (Übersetzung: Von Chamisso gesammelt, brachte er sie von seiner Reise um die Welt mit.)
Im Jahre 1999 wurden der Schädel und ein Unterkiefer aus der anatomischen Sammlung der Charité der Zoologischen Lehrsammlung der Humboldt Universität (s. Scholtz 2018) überlassen. Die historische Bedeutung dieser Gegenstände blieb über 10 Jahre unbemerkt. Erst als es im Rahmen des DFG-Projektes „Die Aneignung des Weltwissens – Adelbert von Chamissos Weltreise“ eine Anfrage aus Hamburg über den Verbleib eines von Chamisso gesammelten Delphinschädels gab, führten eigene Provenienz-Recherchen zur Identifikation des Objektes. Weitere von Chamisso gesammelte Delphinschädel wurden im Bestand des Museums für Naturkunde identifiziert. Ein Abgleich mit den Notizen in Chamissos Reisetagebüchern (Sproll et al. 2023) bietet nun die Möglichkeit, herauszufinden, um welche der sechs in den Tagebüchern erwähnten Schädel und um welche Delphinarten es sich handelt.
Bild 3 - Adelbert von Chamisso in der Südsee
Aquarelliertes Porträt Chamissos unter Palmen im Pazifik von Ludwig Choris von 1817 (Sammlung Stiftung Stadtmuseum Berlin, Reproduktion: Oliver Ziebe, Berlin, Papier, Blatt: H: 22,80 cm, B: 18,40 cm, Inv.Nr.: TA 00/2026 HZ)

Chamisso war wie zahlreiche seiner wissenschaftlich tätigen Zeitgenossen Mitglied der „Gesellschaft Naturforschender Freunde zu Berlin“. Als ein typisches Kind der Aufklärung wurde diese private Vereinigung am 9. Juli 1773 in der Wohnung des Berliner Arztes Dr. Friedrich Heinrich Wilhelm Martini aus der Taufe gehoben (Böhme-Kassler 2005). Die sieben Gründungsmitglieder zeigten über ihre Professionen als Ärzte, Apotheker, Astronom, königlicher Kriegsrat und königliche Verwalter hinaus großes Interesse an naturwissenschaftlichen Fragen und waren stolze Besitzer von Naturaliensammlungen. Martini, der die Gründung initiierte, war beispielsweise ein engagierter Weichtierkundler und der Apotheker Marcus Élieser Bloch interessierte sich für Fische. Die schließlich zwölf ordentlichen Mitglieder trafen sich regelmäßig in ihren Privatwohnungen, diskutierten über naturkundliche Fragen und stellten ihre neuerworbenen Sammlungsgegenstände vor. Assoziierte und Ehrenmitglieder wurden zusätzlich bestimmt. Nicht zuletzt die Gründung der Berliner Universität im Jahre 1810 ließ die Mitgliederzahlen stark ansteigen. Als Chamisso im Jahre 1819 in die GNF gewählt wurde, gehörte es bereits zum guten Ton, die Mitgliedschaft neben der in anderen nationalen und internationalen Vereinigungen und Akademien aufzuführen. Die explosive Entwicklung naturwissenschaftlicher Forschung im 19. Jahrhundert fand auch ihren Niederschlag in der GNF. Sie wuchs beständig, und vor allem die große Zahl herausragender Forschungspersönlichkeiten, die ihr angehörten, zeigt ihre historische Bedeutung. Dabei wechselte der Schwerpunkt der Interessen immer mehr in Richtung biologischer Fragestellungen. Dementsprechend war die Gesellschaft eng mit dem Museum für Naturkunde verbunden, und mit Beginn des 20. Jahrhunderts fanden dort die Sitzungen statt. Der 2. Weltkrieg führte zu einer Zäsur der Aktivitäten der GNF. Im Jahre 1955 erfolgte die Wiederbelebung an der neugegründeten Freien Universität im Westteil Berlins, wo die Gesellschaft auch heute noch ihren Sitz hat. Die GNF hat sich von Beginn an der Förderung und Verbreitung naturwissenschaftlicher Erkenntnisse verschrieben. Diesem Ideal folgt sie auch heute noch. Sie ist eng mit den großen Berliner Universitäten und dem Museum für Naturkunde verbunden. Sie verleiht jährlich einen Preis für herausragende biologische Bachelor- und Masterarbeiten. Es finden nach wie vor regelgemäße Treffen mit wissenschaftlichen Vorträgen sowie Exkursionen statt. Sie ist die älteste noch existierende, private naturforschende Gesellschaft in Deutschland. Die GNF begeht am 9. Juli 2023 ihr 250-jähriges Bestehen im Hörsaal der Zoologie an der Freien Universität Berlin mit einem Kolloquium. Außerdem beleuchtet eine im Namen des Vorstands herausgegebene Festschrift Aspekte ihrer langen Geschichte (Scholtz et al. 2023).

Von Prof. Dr. Gerhard Scholtz

Links
Zoologische Lehrsammlung der Humboldt-Universität zu Berlin
Salpen (Feuerwalzen), Feuchtpräparat

Literatur
Böhme-Kassler, K. 2005 Gemeinschaftsunternehmen Naturforschung. Modifikation und Tradition in der Gesellschaft Naturforschender Freunde zu Berlin 1773 – 1906. Franz Steiner, Stuttgart.

Chamisso, A. von 2012 Reise um die Welt (Nachdruck). Die Andere Bibliothek, Berlin

Glaubrecht, M. & Dohle, W. 2012 Discovering the alternation generations in salps (Tunicata, Thaliacea): Adelbert von Chamisso’s dissertation “De Salpa” 1819 its material, origin and reception in the early nineteenth century. Zoosystenatics and Evolution 88: 317-363.

Scholtz, G. 2018 Zoologische Lehrsammlung (Zoological Teaching Collection). In: Beck, L.A. (Hrsg.). Zoological Collections of Germany – The animal kingdom in its amazing plenty at museums and universities. Springer, Berlin, pp. 123-134.

Scholtz, G., Sudhaus, W. & Wessel, A. (Hrsg.) 2023 Festschrift zum 250-jährigen Bestehen der Gesellschaft. Sitzungsberichte der Gesellschaft Naturforschender Freunde zu Berlin 57 (NF): 5-320.

Sproll, M., Erhart, W. & Glaubrecht, M. (Hrsg.) 2023 Adelbert von Chamisso: Die Tagebücher der Weltreise 1815-1818, Edition der handschriftlichen Bücher aus dem Nachlass. Brill/V&R Unipress, Göttingen.

Vortrag: historische Tonaufnahmen indigener Stimmen und Traditionen

Sebastian Klotz hat im Rahmen der RUPERTO CAROLA RINGVORLESUNG der Universität Heidelberg mit dem Thema „IMMATERIELLES ERBE: EINE ZUKUNFTSRESSOURCE?“ im Juni 2023 eine Vorlesung zum Thema „Dokument oder transformative Ressource? Phonographische Aufnahmen im UNESCO-Register „Memory of the World“ gehalten. Der gesamte Vortrag ist als Video verfügbar.

Sebastian Klotz spricht über den sensiblen Umgang mit phonographischen Aufnahmen.

Wie ein angemessener und sensibler Umgang mit historischen Tonaufnahmen indigener Stimmen und Traditionen aussehen kann, ist Thema der nächsten Veranstaltung in der Ruperto Carola Ringvorlesung. Prof. Dr. Sebastian Klotz von der Humboldt-Universität zu Berlin spricht unter dem Titel „Dokument oder transformative Ressource?“ über „Phonographische Aufnahmen im UNESCO-Register Memory of the World“. Sein Vortrag ist Teil der Ringvorlesung mit dem Titel „Immaterielles Kulturerbe – eine Zukunftsressource?“, zu der die Universität Heidelberg in diesem Sommersemester einlädt. Hintergrund der Reihe bildet das vor 20 Jahren geschlossene Übereinkommen, mit dem sich die UNESCO für den Kulturerbe-Schutz einsetzt.

Die Veranstaltung mit Prof. Klotz findet am Mittwoch, 28. Juni 2023, in der Aula der Alten Universität statt und beginnt um 18.15 Uhr.

Die historischen Walzenbestände des Berliner Phonogramm-Archivs wurden 1999 in das Weltdokumentenerbe aufgenommen. Seitdem haben sich, wie Prof. Klotz betont, die Perspektiven auf phonographische Aufnahmen verschoben. Galt die Würdigung durch die UNESCO damals in erster Linie der Sicherung und Wahrung verlorener oder gefährdeter Traditionen, rücken heute die Umstände ihrer Entstehung in das Blickfeld. Mit dem Konzept der sensiblen Sammlungen werden die eingeschränkten Rechte und Handlungsräume der unter kolonialen oder Kriegsumständen aufgezeichneten Akteure thematisiert. Indigenen Gruppen wurden ihre Stimmen und kulturellen Traditionen mithilfe ihnen nicht zugänglicher Technologien entzogen, um sie ohne weitere Einflussnahme auszuwerten und zu interpretieren. Nach den Worten des Referenten erweisen sich die historischen Aufnahmen als transformative Objekte, deren kulturelle Bedeutung nicht fixierbar ist, sondern multidimensional fortgesetzten Aushandlungsprozessen in Wechselwirkung mit den Herkunftskulturen unterliegt. Sebastian Klotz ist Professor für Transkulturelle Musikwissenschaft und Historische Anthropologie an der Humboldt-Universität zu Berlin.

Quelle: Pressemitteilung Nr. 75/2023
Universität Heidelberg
22. Juni 2023

Demokratiefragen des digitalen Finanzsektors – eFin & Demokratie

Daniel Tyradellis, Vizedirektor des Helmholtz-Zentrums, ist Mitglied der Projektgruppe „efin & Demokratie“ des ZEVEDI – Zentrum verantwortungsbewusste Digitalisierung, gefördert durch die Stiftung Mercator.
Die aus Vertreter:innen von Wirtschaft, Recht, Wissenschaft, Kultur und Medien sich zusammensetzende Gruppe begleitet über fünf Jahre kritisch die Pläne der EZB zur Einführung des digitalen Euro. Ziel ist eine inter- und transdisziplinäre Öffnung der Diskussionen über die mit dem digitalen Zentralbankgeld verbundenen gesellschaftlichen Auswirkungen.

Weitere Informationen finden Sie in der Website eFin & Demokratie des ZEVEDI.

eFin & Demokratie
eFin & Demokratie © Matthias-Seifert

Objekt des Monats: Fotografische Reproduktion des Röntgenbildes eines gebundenen Fußes

Objekt des Monats 06/2023

Über einen Zeitraum von tausend Jahren wurden chinesischen Mädchen die Füße gebunden, um sie zu verkürzen. Europäer:innen blickten mit einer Mischung aus Faszination und Befremden auf diese Schönheitspraxis. Im 19. Jahrhundert interessierten sich auch Mediziner für die gebundenen Füße, einer von ihnen war der Berliner Anatom Hans Virchow, dessen podologische Sammlung sich heute im Centrum für Anatomie der HU befindet.

Zu dieser Sammlung gehört auch das hier präsentierte Objekt, ein auf Karton geklebter Abzug eines Röntgenbildes (vgl. zu diesem https://www.sammlungen.hu-berlin.de/objekte/sammlung-am-centrum-fuer-anatomie/8468/), der handschriftlich mit „Fuß einer 32 jähr. chin. Frau“ bezeichnet ist.

Fuß einer 32 jähr. chin. Frau
Fotografische Reproduktion des Röntgenbildes eines gebundenen Fußes, Foto: Felix Sattler

Das Skelett zeigt die charakteristischen Merkmale gebundener Füße: Die kleinen Zehen sind unter die Sohle gekrümmt, der Spann ist nach oben gewölbt. Außer der extremen Verkürzung springt vor allem die genagelte Sohle ins Auge – offensichtlich wurde das Röntgenbild durch den Schuh aufgenommen.

Wie es dazu kam, lässt sich der „Zeitschrift für Ethnologie“ entnehmen: Im März 1905 lud Hans Virchow die Mitglieder der Anthropologischen Gesellschaft ins Foyer des Berliner Zirkus Schumann „zur Besichtigung der gegenwärtig hier weilenden Chinesentruppe“, um sich „von der Kleinheit und Umformung der Chinesinnenfüsse“ zu überzeugen. Über die Identität der „Truppe“ geben Anzeigen und zeitgenössische Quellen Aufschluss. Es handelte sich um den Zauberer Ching Ling Foo und die „berühmten kleinfüssigen Frauen“: seine Ehefrau (die „32 jähr. chin. Frau“), ihre Tochter Chee Toy und Chee Roan, deren Name auf einer Fotografie im Náprstek-Museum Prag, einer anderen Etappe ihrer Europatournee, vermerkt ist (vgl. Heroldová 2008). 

Fotografie im Náprstek-Museum Prag
Ching Ling Foo, seine Frau, Chee Roan und Chee Toy im Náprstek-Museum, 1905, Schwarzweißfotografie auf Karton, © Náprstek-Museum Prag

Schon in der Einladung hatte Virchow Hoffnungen auf eine Inspektion unverhüllter Füße gedämpft, „denn bekanntlich [seien] die chinesischen Frauen in bezug auf ihre Füsse besonders diffizil“. Tatsächlich wurden gebundene Füße in China nie öffentlich nackt gezeigt. Ausländische Fotografen und Ärzte brachen im 19. Jahrhundert vielfach das Blicktabu, indem sie Frauen mit Geld und Geschenken bedrängten. Auch die Artistinnen verweigerten sich dem zudringlichen Blick, ließen sich aber zu Röntgenaufnahmen bewegen – durch den Schuh. Ob dies, wie James Fränkel in der „Zeitschrift für orthopädische Chirurgie“ behauptet, nur gelang, weil die Frauen das 1895 entdeckte Verfahren nicht kannten oder ob er hier den Topos des heimlichen „Röntgenblicks“ bemühte, lässt sich nicht entscheiden. Die Aufnahme jedenfalls zeugt nicht nur von dem übergriffigen medizinischen Blick, sondern auch von dem Widerstand der Frauen.

Für die Anatomen war die Kampagne ein Erfolg, denn sie erlaubte nicht nur die Füße in drei Stadien der Verformung zu sehen, sondern – wider das populäre Vorurteil von der Gehunfähigkeit – auch in Bewegung. Für die Publikation der Untersuchungsergebnisse nahm Virchow mehrfache Überarbeitungen an den Röntgenbildern vor: Er drehte und retuschierte die Aufnahmen, um sie besser lesbar zu machen (vgl. Dünkel 2021). Für ihn war der Ortstermin weder die erste noch die letzte Begegnung mit gebundenen Füßen. Schon 1903 hatte er ein nach dem Ersten Opiumkrieg in die Berliner Sammlung gelangtes Feuchtpräparat untersucht, 1912 mazerierte er die Füße einer an Typhus verstorbenen Frau, die er im Zuge des „Boxerkriegs“, der Niederschlagung der Yihetuan-Bewegung, erhalten hatte. Hatten Mediziner im 19. Jahrhundert neben dem Blicktabu immer wieder auch den mangelnden Zugang zu chinesischen Leichen beklagt, änderte sich die Situation durch die Einrichtung von Missionskrankenhäusern und die Kolonialkriege. Bald besaß fast jede anatomische Sammlung der Imperialmächte Präparate gebundener Füße – einige davon aus geplünderten Gräbern. Auch Virchows Sammlung von Abgüssen, Modellen und Knochen gebundener Füße verdankt sich den kolonialen Bedingungen. Die Ausstellung „unBinding Bodies“ im gegenüberliegenden Tieranatomischen Theater hat es sich zur Aufgabe gemacht, die sensiblen Objekte neu zu kontextualisieren. Im Fokus stehen nicht die Füße, sondern die chinesischen Frauen und ihre Lebenswelten. Die Ausstellung läuft bis zum 31. August.

Jasmin Mersmann und Evke Rulffes

Ausstellung
unBinding Bodies. Lotosschuhe und Korsett im TA T

Katalog
unBinding Bodies – Zur Geschichte des Füßebindens in China
Jasmin Mersmann / Evke Rulffes (Hg.)
transcript Verlag, 2023. Open Access.

Literatur
Vera Dünkel (2021): Beyond Retouching. Hans Virchow‘s Mixed Media and his X-ray Drawings of the Lotus Foot, in: Hybrid Photography, hrsg. von Sara Hillnhuetter, Stefanie Klamm, Friedrich Tietjen, London/New York, S. 79–88.

James Fränkel (1905): Ueber den Fuß der Chinesin, in: Zeitschrift für orthopädische Chirurgie 14, S. 339–356.

Helena Heroldová (2008): Příběh jedněch botiček, in: Cizí, jiné, exotické v české kultuře, hrsg. von Kateřina Bláhová und Václav Petrbok, Prag, S. 126–133.

Jasmin Mersmann (2023): Bis auf die Knochen. Gebundene Füße in anatomischen Sammlungen, in: unBinding Bodies, hrsg. von ders. und Evke Rulffes, Bielefeld, S. 119–129.

Hans Virchow (1903): Das Skelett eines verkrüppelten Chinesinnen-Fußes, in: Zeitschrift für Ethnologie 35:2, S. 266–316 und (1905): Weitere Mitteilungen über die Füße von Chinesinnen, in: ZfE 37:4, S. 546–568.